Eine künstlerische Position zur Frage – Zeit und deren Kontrollierbarkeit.
Signers Arbeiten zur Abstraktion von Zeit erfahren in diesen Augenblicken ein besonderes Update. Sie demonstrieren gleichsam, wie die Krise, die Hülle des als so sicher empfundenen Kokons in dem wir uns wähnten, in ihre Fragmente zerlegt, wie bei einer Explosion in Zeitlupe, dann nach und nach zur Ruhe kommend völlig neu zusammengesetzt eine neuen scheinbar stabilen Zustand erreichen. Alles wird unsicher – nur der Lauf der Zeit, er gibt dazu sein unendliches Tick, Tick, Tick.
1. Einleitung
Der 1938 in Appenzell geborene Roman Signer gehört seit seinen Beteiligungen an der Documenta 8 in Kassel (1987), der Ausstellung Skulptur Projekte Münster (1997) und der Biennale in Venedig (1999) zu den bedeutendsten und markantesten europäischen Gegenwartskünstlern. Im Jahr 2006 erhielt Roman Signer den Kunstpreis Aachen. In der Begründung des Entscheids heißt es: „Seine prozessorientierte Untersuchung der Welt mit Hilfe skurriler Modellsituationen wurde für nachfolgende Künstlerinnen und Künstler äußerst produktiv und führte einem großen Publikum immer wieder die Intensität zweckfreier und hintersinnreicher Konstruktionen vor Augen.“1 Signers Skulpturbegriff ist ein dynamischer, seine Arbeiten sind „Zeit-Skulpturen“2. Sie umfassen prozessuale Abläufe in der Zeit und deren mediale Aufzeichnung. Sie manifestieren sich durch Formung von Zeit. Zielsetzung dieser Arbeit ist es, in Erweiterung dieser Zuschreibungen den Einsatz von Zeit als wahrnehmungskonstituierendes Medium und bildhauerisches Material in Signers Werk zu untersuchen. Nach einer kurzen Einführung zu seiner Person, folgt unter besonderer Berücksichtigung der kunsthistorischen Einordnung seines Werkes die Beschreibung dessen, was Signers Skulpturbegriff als erweitert kennzeichnet. Im Anschluss daran wird der Einsatz von Zeit als Material in Signers Skulpturen aufgezeigt. Hauptaugenmerk soll dabei auf Zeitintegration und Zeitmodellierung liegen. Ausgehend von Signers Werk Explsion3 soll der Gebrauch medialer Dokumentation als Mittel zur zeitbasierten Wahrnehmungskonstitution geprüft werden, um im Anschluss daran unabhängig von medialer Inszenierung den Einsatz von Zeit als wahrnehmungs- und somit die Zeit-Skulpturen konstituierendes Medium festzumachen.
2. Roman Signer
Signer absolvierte eine Lehre als Hochbauzeichner und arbeitete von 1959-1966 in diesem Beruf. Er besuchte ab 1966 die Kunstgewerbeschule in Zürich und von 1969 bis 1971 die Schule für Gestaltung in Luzern, Bildhauerklasse A. Egloff. Nach seinem Aufenthalt an der Kunstakademie Warschau von 1971 bis 1972 war er von 1973 bis 1994 als Dozent an der Schule für Gestaltung in Luzern tätig. Seit 1972 arbeitet er als freischaffender Künstler in St. Gallen.4 Einem grösseren Kunstpublikum durch spektakuläre Aktionen mit Sprengstoffen bekannt, wird Signer oftmals als „Explosionkünstler“ oder „Ostschweizer Sprengmeister“5 bezeichnet. Signer greift das zu kurz: „Explosionen spielen zwar eine gewisse Rolle in meiner Arbeit, zugegeben, vor allem bei den Aktionen. Dabei geht es mir aber nie bloss um den banalen Knall. Ich habe mich immer ganz ernsthaft mit dem Phänomen der Explosion auseinander gesetzt: Die Explosion ist für mich ein Mittel zur Skulptur.“6
3. Erweiterter Skulpturbegriff
Signer ist, wie er stets betont, Bildhauer.7 In Anlehnung an Harald Szeemans8 kunsthistorisch bedeutsamer Ausstellung When Attitudes Become Form 1968 in der Kunsthalle Bern9 und die Erweiterung der traditionellen Konzeption von Skulptur in den sechziger Jahren definiert er den Moment der Veränderung und den prozessualen Ablauf in der Zeit als skulpturalen Vorgang.10 Signer unterscheidet drei Werkphasen, die den formalen Rahmen der skulpturalen Formung bilden: Die Werkanlage besteht aus der Vorbereitung des prozessualen Ablaufs und umfasst das Potential für eine Transformation. Im Werkprozess erfolgt die energetisch bedingte Formveränderung. In der dritten Phase, verweisen die umgeformten Gegenstände und Spuren auf das Potential des abgelaufenen Prozesses.11
Skulpturale Recherche ist ein Leitbegriff in Signers Werk. Während aber Künstler wie Yves Klein, Robert Morris, Carl Andrè und Richard Serra in der Tradition Duchamps Arbeit „Air de Paris“ von 191912 in den sechziger Jahren die Materialität skulpturaler Form über die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft bestimmt haben13, ist Signers Werk näher an der Gegenbewegung, der Dematerialisation zugunsten der Sichtbarmachung von Prozessen angelegt. Dabei ist die Konzeption des prozessualen Ablaufs und dessen Inszenierung, sei sie medial oder vor Publikum, entscheidenster Bestandteil der skulpturalen Formung. Michaela Unterdörfer verdeutlicht, weshalb dennoch eine Abgrenzung seiner Arbeiten von denjenigen der Konzeptkunst erforderlich ist: „Während nämlich die Konzeptkunst das Verhältnis von Anschaulichkeit und Vorstellung, von dem unmittelbar Wahrnehmbaren und dem Denkbaren im Verzicht auf materielle Ausführung und über das sprachliche Substitut untersucht, bedient sich Signer der Anschaulichkeit und Sinnlichkeit elementarer Gegenstände und schafft damit Konstellationen, die mit ihrer fühlbaren Physik ein universelles Idiom zu sprechen vermögen.“14 Signer fertigt zu seinen Skulpturen Zeichnungen an, die in ihrer Ausführung Versuchskizzen für naturwissenschaftliche Experimente gleichen. Diese sind, anders als in der Konzeptkunst aber auch der Aktionskunst, nicht als eine Proposition an einen Performer angelegt, sondern sind Bestandteil der ersten Werkphase. Signer selbst ist der Ausführende. Seine plastischen Studien unter Einbeziehung der Realzeit als wahrnehmungskonstituierendes Element nennt Signer „Ereignisse“15. Entmaterialisierung und Temporalisierung plastischer Form in sukzessive Zustandsbeschreibungen und die Einbindung von „Raum als Funktion der Zeit“16 bilden das Fundament von Signers „Ereignis-Skulpturen“17. Konrad Bitterli verweist darauf, dass diese „Dematerialisierung des Objektes und die temporale Erweiterung […] zu einer völligen Auflösung der Statik und Objekthaftigkeit von Skulptur in übergreifende Raum-Zeit-Strukturen“18 führen. Diese ephemeren Strukturen konstituieren sich durch Bewegung und Beschleunigung im Raum und zeigen Bewegungsbilder als visuelle Referenzsysteme auf. Die mediale Aufzeichnung, als dem Werk zugehörige Dokumentation des Fortgangs eines skulpturalen Ereignisses, erfolgt in Fotoserien, Video oder Filmaufnahmen. Diese Dokumentation hat sich neben konzeptionellen Planskizzen und vorbereitenden Zeichnungen zu einem autarken Werkstrang entwickelt und konstituiert die Ereignis-Skulpturen im zeitlichen Fortgang. Zur Visualisierung des Raumes als Funktion der Zeit bedient sich Signer der der Natur innewohnenden Energiepotentialen, aber auch der physikalischen Eigenschaften von Wasser, Sand oder Stein. Feuer, Raketen und Explosionen werden zur Transformation von Tischen, Stühlen, Hockern, Kisten, Betten, Fahrrädern und Modellhelikoptern eingesetzt. Diese Alltagsgegenstände bilden neben der Zeit und der Ausdehnung im Raum Signers Repertoire an Werkstoffen. Sie werden durch figurative Synthesen aus ihrer gewohnten Funktion herausgelöst, um die den Dingen immanenten Sinnschichten offenzulegen. Verwiesen sei hier auf Konrad Bitterli19, der sich ausführlich mit der poetischen Autonomie des Bildnerischen in Signers Werkanlagen befasst hat. Er betont, es sei gerade jener Umstand, dass das bildnerisch assoziative Potential ein der Dingwelt inhärentes ist, der Signers Arbeiten deutlich von den Traditionen der Prozesskunst unterscheidet. So bedient sich Signer im Gegensatz zu der New Sculpture Ende der sechziger Jahre, die „ mögliche Sinnebenen zugunsten der Eigendynamik des rein Materiellen und der Autonomie der Gestalt zu unterdrücken“20 suchte, der Poesie des Visuellen und des in der Imagination Angelegten, archetypischer Zuschreibungen und emotionaler Bindungen. Der Wahrnehmunskonstitution durch Zeitmodulation als skulpturale Formung steht die wahrnehmungskonstituierende Größe visueller Metaphern gegenüber. Für die Begriffszuordnung der erweiterten Skulptur hinsichtlich der prozessualen Skulpturen Signers ist jedoch ausschließlich der Aspekt der Zeitformung maßgebend, der im Folgenden auf seine wahrnehmungsformende Bedeutung hin untersucht werden soll.
4. Zeit als Medium in Signers Werk
Zeit durchzieht leitmotivisch das Werk Roman Signers. Seine Arbeiten ereignen sich in der Zeit21, mit der Zeit, durch Zeit und abhängig von Zeit. „Ablauf, Gleichzeitigkeit, Dauer, Plötzlichkeit, Kontinuität, Verdichtung und Rhythmus entfalten ein ganzes Kompendium aus Modi des Temporalen.“22 Dieses Kompendium an beschreibenden Zeitqualitäten legitimiert jedoch noch nicht die Verwendung des Begriffs der Zeit-Skulptur. Zeit muss nicht nur Medium des bildhauerischen Schaffens, sondern auch das geformte Material selbst sein. Mit der Zeit muss auch die Imagination und Erinnerung des zeitlichen Ablaufs der Skulpturen Bestandteil des bildnerischen Werkes und seiner Rezeption sein. Die Komposition von Zeit in Vorgängen der Rhythmisierung, Vernetzung und Fragmentierung ist ein Bestandteil der geforderten Zeitmodellierung und findet in Signers Werk Eingang durch elektrische Zündungen, Sprengungen und andere Formen eines plötzlichen Ereignisses. Dabei stellt Signer die Wirkung von Dauer der Plötzlichkeit antagonistich gegenüber und bindet sie als weitere Zeitqualität in seine Werke ein, sei es als eine realzeitliche Dauer oder eine medial angelegte. Beispiel für die Einbindung von sowohl realzeitlicher Dauer als auch von Plötzlichkeit ist sein bislang größtes Werk Aktion mit einer Zündschnur: 1989 verlegte Signer Zündschnur entlang der 20,6 Kilomter langen Bahnstrecke von seinem Geburtsort Appenzell zu seinem Wohnort St. Gallen, deren je 100 Meter langen Teilstücke durch Schwarzpulver-Kupplungen miteinander verbunden waren. „Die Flamme glimmt sich im Innern der gegen Nässe isolierten Zündschnur langsam durch, und nur eine feine, kaum wahrnehmbare Rauchwolke deutet die sanfte Vorwärtsbewegung [mit einer Brenngeschwindigkeit von 150 Sekunden pro Meter] an. Der Brennvorgang entzündet an jeder Kupplungsstelle eine kurze Stichflamme [alle 4 bis 4 1/2 Stunden], um sich dann in geruhsamer Weise durch die Zündschnur weiterzufressen.“23 Die Wirkung der Dauer wird durch die Plötzlichkeit der Stichflammen entgrenzt und die Zeitempfindung wird „stillgelegt in einer reduktiv komplexen Bildlichkeit des Plötzlichen“24. Die Sequenzierung und Rhythmisierung sowohl der Bewegung in der Zeit als auch der Realzeit durch die sich getaktet wiederholende Plötzlichkeit konstatiert die Zeit als die Wahrnehmung sensibilisierend. Paul Goods Definition der „Zeit als Dauer des Veränderlichen“25 unterstreicht die Abkehr Signers von der Bedeutung der realzeitlichen Dauer hin zum individuellen Perzept und somit der Dauer der Erwartung einer Veränderung. Zeit wirkt in Roman Signers Werken nicht nur als Entität sondern auch als eine emotional stimulierende und höchst subjektive Maßeinheit. Ein Experiment zur raumübergreifenden Synchronität innerhalb einer Zeit-Skulptur stellte 1990 Sculpture Made by Telephone dar: In einer New Yorker Galerie wurde durch einen Telefonanruf aus der Schweiz ein elektrischer Impuls ausgelöst. Dieser durchtrennte die Aufhängung eines Sandsackes, der daraufhin zu Boden viel und zerplatzte. Sculpture Made by Telephone ist Illustration jenes künstlerischen Gegenstandes, den Max Wechsler als „Thematik der imaginären Streckung oder Entgrenzung eines gegebenen Zeitabschnitts“26 bezeichnet und dessen Ursprung die räumliche Trennung ist. Zeit dient dabei der gedanklichen Übertragung der Wirkungsverhältnisse. Sie wird durch ihre ideelle Streckung, die zugleich die gedankliche Rekonstruktion des Prozesses erst ermöglicht, instrumentalisiert und materialisiert.
5. Zeitstruktur durch mediale Aufzeichnung
Anhand des Werkes Explosion soll im Folgenden untersucht werden, wie Signer die mediale Aufzeichnung eines skulpturalen Vorgangs zur Strukturierung von Zeitwahrnehmung einsetzt. Explosion dokumentiert die Sprengung einer Holzkiste und ist 1995 im Verlag Edizioni Periferia erschienen. Die Sprengung fand in Weissbad, Kanton Appenzell im Herbst 1993 statt. Den Begleittext schrieb Kunstpublizist Max Wechsler, die fotografische Dokumentation der Sprengung erfolgte durch Stefan Rohner. Das Buch umfasst 174 Seiten a 330 x 235 cm und 155 schwarz-weiss Abbildungen. Die erste von insgesamt fünf schwarz-weiss Fotografien im ersten Sinnabschnitt des Buches zeigt die Nahaufnahme einer Holzkiste. Diese steht auf einer Wiese und befindet sich im Zentrum der Abbildung. Aus Ihrem Innenraum führen zwei Elektrokabel heraus. Der gewählte Bildausschnitt macht weder die Funktion der Kabel noch die Umgebung der Kiste ersichtlich. Diese semiotische Störung ist Werkstoff der medialen Inszenierung; die erwartete Plötzlichkeit wird zum Stimulans der Sinne. Das Objekt befindet sich im energetischen Ruhezustand, die Erwartung eines Potentials alamiert. Explosion fordert eine imaginative Rekonstruktion. Die erwartete Plötzlichkeit eines Potentials ist die Imagination der eigenen emotionalen Reaktion auf das in der Vorstellung rekonstruierte Ereignis. Die skulpturale Vergangenheit geht über in das gedankliche, medial evozierte Futur; eine Reklamation von Gegenwart entfällt. Präsens ist in Signers Werken stets ein Aspekt von Vergangenheit und Zukunft27 und bildet somit einen zeitlichen Grenzwert im Intervall skulpturaler Transformation. In den vier darauffolgenden Abbildungen ist die Holzkiste ebenfalls in das Zentrum der Abbildung gesetzt. Es liegt jedoch keine Nahaufnahme vor. In Erwartung eines plötzlichen Vorfalls wird dem Betrachter die erforderliche Distanz zum Objekt angezeigt. Im Fokus des fotografischen Bildes ist neben der Kiste auch die Umgebung derselben: An die Wiese schließt sich ein mit Bäumen und Sträuchern bewachsener Hang an. Es ist Herbst, der Boden mit Blättern bedeckt. „Signer konzipiert Skulptur eben auch als Bild“28, sodass die künstlerische Setzung des Ereignisses in einem medialen Umfeld nach Beendigung der Transformation den Charakter der Bildkomposition festlegt29. Dem Betrachter wird der Zugang zu einer ideellen Rekonstruktion des Prozesses mithilfe dieser illustrativen Bildwerte erleichtert. Die prozessuale Vergangenheit erhält eine situative Stimmung und bindet emotional. Die erste dieser vier Folgefotografien zeigt die Kiste wie schon die Abbildung zuvor im energetischen Ruhezustand. Die nachfolgenden Bilder zeigen drei sich deutlich unterscheidende Zustände innerhalb der verschiedenen Stadien der Sprengung: Zum Einen die Zündung des pyrotechnischen Satzes und den daraus resultierenden Flammenherd, zum Anderen zwei zeitversetzte Objektzustände der Holzkiste während der Detonation. Die räumliche Ausdehnung als Bewegung in drei Dimensionen findet in der Beschleunigung des Objekts die vierte Dimension, die als lineare Zeiterfahrung autark ist30. Der fotografischen Dokumentation bedient sich Signer als Übertragungsverfahren. Dieses folgt sowohl der medialen Strukturierung abgelaufener Prozesse als auch der Definitionsfindung raum-zeitlicher Bezüge im Bild.31 Die Ergebnisse dieser zunächst seriellen Definitionsfindung bilden eine lineare Chronologie der sich aufeinander beziehenden Phasen skulpturaler Formung ab und kennzeichnen die Modellierung von Zeitwahrnehmung anhand der dokumentarischen Nachlieferung. „Skulptur als realzeitliches System“32 wird fassbar durch die Verlagerung des zeitlichen Moments in Standbilder der kinetischen Sukzession. Zeit-Skulptur als realzeitliches System ist in ihrer Materialität fassbar im gedanklichen Bestand des Betrachters. Im Anschluss an die Fotografien folgt der von Max Wechsler verfasste Begleittext, der durch seine Position im Werkbuch einen Bruch in der linearen Abfolge der drei Werkphasen der Transformation bildet und als Platzhalter für weitere Zustandsbeschreibungen der Sprengung auftritt. Die Rezeption der seriellen Dokumentation wird unterbrochen, die lineare Repetition im Gedanken entgrenzt und die Imagination der Realzeit des Ereignisses irritiert. Der Text wirkt als wahrnehmungskonstituierender Marker, der zu einer Synthese aus rezipierter Vergangenheit und Gegenwart zwingt, sodass der dritte Abschnitt, der der Abbildung von 200 (von insgesamt 524) nach der Sprengung zurückgebliebenen Splitter der Holzkiste im Maßstab 1:2 dient, einer zeitlichen Explikation bedarf. Zwischen Detonation (zweite Werkphase der Ereignis-Skulptur) und dokumentarischem Ergebnis der Sprengung (dritte Werkphase der Dokumentation der Ereignis-Skulptur) ist die Realzeit des Lesens als retardierendes Moment gesetzt. Die Bestimmung räumlicher und zeitlicher Dimensionen des prozessualen Ablaufs wird an die Werkphasen der Dokumentation gebunden und findet ihren Abschluss in der Dokumentation von zeitlicher Dauer bedingt durch energetische Plötzlichkeit. Sie ist gekennzeichnet durch die Archivierung energetischer Ruhezustände in Form der zurückgebliebenen Fragmente der gesprengten Holzkiste. Die Dokumentation als dem Werk immanenter gestaltericher Gesamtvorgang ist somit die vierte, den gesamten Prozess begleitende, Phase der Ereignis-Skulptur33. Neben der gedanklichen Rekonstruktion des Ereignisses zeigt die ideelle Reaktivierung des Dokumentationsvorgangs selbst die Zeit als bildendes Moment auf. Signer fragmentiert die Kontingenz der Massenmodulation in Explosion nicht in einzelne Momente medialer Wahrnehmung, wie in anderen Werken anhand von Videostills, sondern sequenziert das technisch, nicht aber mit dem menschlichen Auge Wahrzunehmende durch die Wahl des Mediums Fotografie und der Aufzeichnung im Freien, die die Anwendung des Kurzzeiteffekts ausschließt. Die Kontingenz der Evidenz34 ist somit abhängig von der kürzest-möglichen Belichtungszeit, der medialen Modellierung des Künstlers (Über eingesetztes Fotomaterial, Belichtungszeiten, die Rhythmik der Belichtung und somit die Streckung des gegebenen Zeitabschnittes enthält das Buch keine Information.) und vom individuellen Zeitbegriff imaginativer Streckung oder Beschleunigung.
6. Fazit
Signer veranschaulicht, konstituiert und modelliert Zeit in seinen Arbeiten. Damit kommt er der Forderung Maurice Merleau-Pontys: „Die Wirklichkeit ist zu beschreiben, nicht zu konstruieren oder zu konstituieren“35 nicht nach. Signer prädisponiert vor Beginn des prozessualen Ablaufs die Konstitution von Zeitwahrnehmung durch den Einsatz medialer Ausfzeichnungsinstrumente; das Darstellungssystem strukturiert das Bezugssystem Zeit. Im Nachgang der medialen Inszenierung strukturiert die Größe der Imagination das Bezugssystem anhand der durch das Darstellungssystem vermittelten Bildwerte. Leitfaden bei Ereignissen unter Ausschluss von Publikum ist die konsequente Überführung des medialen Werkes in die Erinnerung an das Werk. Beim Betrachter des tatsächlichen Ereignisses wirkt diese Erinnerung als letzte und einzige Dimension der Zeit im Hinblick auf die skulpturale Formung der Arbeiten. So sind Roman Signers Ereignisse durch ihre unmittelbare Überführung in den Raum der individuellen Erinnerung, den Raum der Imagination und den Raum der Erinnerung aus der Imagination auch neuronale Skulpturen. Dabei ist Zeit in der Erinnerung, auch der medial angelegten, erneut zahlreichen Deformationsprozessen unterworfen. Die Linearität des Ereignisses wird zurückgedrängt zugunsten der non-linearen Erinnerungsstruktur des Gedächtnisses. Signers Zeit-Skulpturen umfassen zeitliche Abläufe „als Gegenwart des Vergangenen, als Gegenwart des Gegewärtigen und als Gegenwart des Zukünftigen“.36 Die Gegenwart des Vergangenen wird gebildet aus der Erinnerung an das Ereignis und dessen medialer Darstellung. Sie konstituiert die Realzeit der Skulptur. Die Gegenwart des Gegenwärtigen ist in Signers Skulpturen auf die Gegenwart der Rezeption beschränkt. Die Gegenwärtigkeit des Zukünftigen ist Dauer, vor allem das Andauern des Ereignisses in der Erinnerung und die Modifikation der realzeitlichen Dauer in der Imagination. Die Gliederung der skulpturalen Zeit (nicht der Realzeit der Zeit-Skulptur) in drei Phasen mit dem Bezugspunkt Gegenwart als Ausgangspunkt der Rezeption bildet die Grundlage des individuellen Perzepts. Die Strukturierung von Zeit als skulpturaler Prozess beinhaltet dem zufolge zwingend den Einsatz von Zeit als wahrnehmungskonstituierendes Element. Somit bedingt erst die individuelle Zeitwahrnehmung die Skulpturierung von Zeit in Signers Zeit-Skulpturen. Die Materialität des Mediums Zeit definiert sich über das individuelle Perzept.
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