6.3.3 Die „Zivilisierbaren“
Mit der Vorstellung von der Zivilisierbarkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen der entdeckten und eroberten Gebiete lockert sich die Dichotomie von den „Zivilisierten“ zu den „Wilden“ auf, wobei die „exotisch“ verklärten „Wilden“ nicht in diese Kategorie gehören. Die „Zivilisierbaren“ übernahmen die Rolle eines Vermittlers zwischen den sich gegenüberstehenden Welten, zwischen Wildnis und Zivilisation. In zahlreichen Artikeln, Karikaturen und Abbildungen der Bildzeitschriften, in der Kolonialliteratur oder in Werbeanzeigen wurde das Bild von „primitiven“ Bewohnern ferner Länder konstruiert, die mit der europäischen Zivilisation bereits seit längerer Zeit in Kontakt standen und als bemüht beschrieben wurden, sich den europäischen Lebensweisen anzupassen und von dem Kontakt mit den „Weißen“ zu profitieren. Als ureigenste Charakterzüge wurden ihnen ein naives, unwissendes, ein vollkommen kindliches Wesen zugeschrieben. Die stark ins Lächerliche gehenden Darstellungen in den Medien der Zeit ließen diesen naiven Wesenszug, der auch den bereits beschriebenen Vorstellungen von den „wilden“, „unberührten Primitiven“ zu eigen war, zu einem die europäischen Lebensgewohnheiten nachäffenden Wesenszug werden. Betroffen von dieser Darstellungsweise waren die im Dienste der Kolonisten stehenden Arbeiter der autochthonen Bevölkerungen, die in den Städten lebenden sowie die unter missionarischem Einfluss stehenden Einheimischen. Aufgrund der engen Nähe der Frage nach Zivilisierbarkeit oder Nicht-Zivilisierbarkeit autochthoner Bevölkerungen zu kolonialpolitischen Aktivitäten und kolonialpolitischer Propaganda, waren es vor allem Schwarzafrikaner, die in dieser Art und Weise ins Lächerliche gezogen wurden. Der Abstand zwischen „Weiß“ und „Schwarz“ sollte aufrechterhalten bleiben, obschon andererseits gerade die autochthonen Lebensweisen als besonders „primitiv“ und abstoßend eingestuft wurden. Dieser Widerspruch hielt eine Fremde aufrecht, wo schon längst keine mehr war. Damit blieb sie Projektionsfläche.
Kolonie und Heimat hat das Bild von den „äffischen Menschen“ besonders häufig inszeniert. Ein Titelbild dieser Zeitschrift zeigt zwei Afrikaner (Abbildung 11). Eine Person hält eine Apparatur in der Hand von der zwei Kabel abgehen, deren Enden von der zweiten Person in den Händen gehalten werden. Die Person, die die Kabel festhält steht in einer unnatürlichen Haltung da, mit den Beinen leicht eingeknickt, den Schultern nach oben gezogen und mit einem schmerzverzerrten Gesicht. Die Person mit der Apparatur in der Hand trägt eine Hemdjacke und eine Hose. Es ist eine europäische Kleidung, die den Träger als einen im Dienste der Europäer stehenden markiert, wogegen der rechts stehende Afrikaner deutlich nicht-europäische Kennzeichen aufweist. Die Bildunterschrift lautet:
„Die Wirkung des elektrischen Stroms auf einen Neger“ „Im allgemeinen imponieren dem Neger die Errungenschaften moderner Technik gar nicht besonders. ‚Kasi uleia‘ – europäische Arbeit – erklärt ihm alles und damit gibt er sich zufrieden. Anders mit der Elektrizität! Das ist ein Zauber, vor dem sein Begriffsvermögen total versagt und ebenso die Erklärung, dass er aus Europa kommt. Eine solche ‚Medizin‘, wie die Elektrizität, wollen natürlich alle kennen lernen und freuen sich diebisch, wenn ein im Ansehen eines großen Helden stehender Stammesgenosse wie oben unser Wagogo, teils von kopflosem Staunen, teils von Entsetzen gepackt, der unheimlichen Gewalt willenlos unterliegen muss“ (KuH, Nr. 3: 19).
Die „Neger“ sind wie Kinder und müssen alles am eigenen Leib erfahren. Sie brauchen die sinnliche Erfahrung, auch wenn Schmerzen damit verbunden sind und haben keinen Wissensdrang, woraus ihre den „Weißen“ untergeordnete Stellung abgeleitet werden kann, so die einfache Aussage. Die Unwissenheit gegenüber der europäischen Technik ist ein wiederkehrendes Motiv. Der im Dienste der Europäer stehende Afrikaner ist in dieser Darstellung dem noch völlig unwissenden „Primitiven“ überlegen. Die Kleidung verweist deutlich auf seine dem Europäer gegenüber untergeordnete Stellung. Aber auch in der Bedienstetenkleidung werden die Träger meist als sehr kindlich beschrieben, die notwendige „Fürsorge“ der Europäer wird betont:
„Draussen steht der kleine Kaffer und sieht in seinem weissen Anzug mit den schwarzen Lackschuhen, die Mutter ihm mitgegeben, und einem steifen Papierkragen ausserordentlich schick aus, denn er hat jetzt eben noch nicht Zeit gehabt, sich schnell einmal neben der Feuerstelle auf dem Hof hinzusetzen“ (KuH 1910, Nr. 24: 9).
Anders verhält es sich wenn die ehemals „Wilden“ europäische Kleidung tragen, die nicht ihren untergeordneten Stand wiederspiegeln. Der Begriff „Hosennigger“ oder „Hosenniggertum“ wurde in Kolonie und Heimat für sich europäisch kleidende Afrikaner verwendet. Die Kolonialliteratur widmete sich diesem Thema besonders intensiv (Sadji. 1985: 269). 1910 präsentierte Kolonie und Heimat der Leserschaft einen zweiseitigen Artikel mit zwölf fotografischen Abbildungen und dem Titel „Der ‚Hosennigger‘“ (KuH 1910, Nr. 22: 2-3). Der Text erläutert, wie der „Naturmensch in seiner Nacktheit“ zunächst komisch auf den Europäer gewirkt hat, da ein „völkerkundlich geschultes Auge“ noch nicht ausgebildet und die „photographische Technik in den Kinderschuhen stand“ (KuH 1910, Nr. 22: 2). Im Folgenden wird begründet, warum nur die Nacktheit den „Naturmenschen“ kleidet.
„Der Masai oder Mgoni mit Speer und Schild, nur mit Hüfttuch oder Fell bekleidet, wirkt entschieden männlich und gar nicht lächerlich (…). Zieht man den Leuten aber Hosen an, so werden sie zur komischen Figur. (…) Am meisten finden wir dieses Hosenniggertum da ausgebildet, wo europäische Kultur unmittelbar mit absoluter Unkultur zusammengetroffen ist“ (Ebd.)
Zwölf Fotografien und Zeichnungen wurden dem Text zur Illustration beigegeben. Sie zeigen großteils den europäischen Vorstellungen entsprechend gekleidete Menschen. Nur mit der Hautfarbe wird der nicht-europäisch, der fremde Aspekt gekennzeichnet. Das Motiv des Afrikaners in europäischer Kleidung tauchte ebenfalls als Sammelbilder (Abbildung 12) und in Werbeanzeigen auf, hier jedoch in deutlich überzeichneter Form. Afrikaner mit Smoking und Zylinder, aber mit kurzen Hosen und ohne Hemd. Das Sammelbild „Bilder aus Afrika – Preiskegeln“ kann erneut als besonders drastisch in der visuellen Umsetzung beschrieben werde. Rote Münder, runde große Ohrringe, große Augen, Männer in Anzug und ohne Hemd, gestreifte Unterhose, ein Mann, der kegelt in der Körperhaltung eines Affen und ein Affe als Hauptgewinn sind einige der ins Komische oder Groteske überzeichneten Szenerie. Das Motiv der „Wilden“ als „Witzfigur“ hat es in früheren Zeiten so nicht gegeben. Es ist Ausdruck der sich nähergekommenen Welten und ist eng mit den neuen Medien verbunden. Essgewohnheiten, Arbeit, Geburt und Erziehung der Kinder, Hygiene und ähnliche Themen wurden in dieser Art verarbeitet. Zum anderen darf das komische Element nicht unterschätzt werden, die Medien wollten unterhaltend sein.
6.3.4 Die „Kannibalen“
Zu den Vorstellungen von Wildnis und den dort lokalisierten „primitiven Naturmenschen“ gehörte auch noch im 19. Jahrhundert das Motiv der „Kannibalen“. Es nahm einen dauerhaft prominenten Platz in den Medien der damaligen Zeit ein. Nicht alle als „primitiv“ betrachtete „Wilde“ wurden automatisch zu „Kannibalen“. Alle „Kannibalen“ wurden jedoch automatisch als „primtive Wilde“ betrachtet. Die äußerlichen, wiederkehrenden Kennzeichen sind dabei nahezu identisch. „Kannibalen“ sind in der Vorstellung der Europäer die „Wilden“, die in den Tiefen der Wildnis lauern und mit den gängigen Requisiten wie Speer und Schild ausgestattet sind.
Die Anthropophagie ist ein immer wiederkehrender Topos, der bereits in den geographischen Berichten der Antike und dem Hoch- und Spätmittelalter bekannt ist. Mit den ersten Beschreibungen im Zuge der europäischen Eroberung des amerikanischen Kontinents erreichten kannibalische[56] Beschreibungen ein bis dahin unbekanntes Ausmaß (Röckelein 1996: 13). Hans Staden, als häufig zitiertes Beispiel (vgl. Luchesi 1882), aber auch zahlreiche andere Autoren des 16. Jahrhunderts legen hierüber ein beredtes Zeugnis ab. Erst jetzt wurde der Begriff „Kannibale“ geprägt, der in europäischen Sprachen bis heute fest verankert ist.[57] Während der Not- oder Hungerkannibalismus auch für Europa belegt ist (Röckelein 1996: 11),[58] wird der rituelle Kannibalismus ausschließlich mit nicht-europäischen Kulturen in Verbindung gebracht.[59] Das Motiv des Kannibalismus war und ist einem steten Wandel unterworfen, und zwar sowohl aus zeitlicher als auch aus räumlicher Perspektive. Auch innerhalb einer Gesellschaft lassen sich unterschiedliche Symbole und Bedeutungen ausmachen, so dass die Kontextualisierung des Motivs zwingend notwendig ist.[60] Im Folgenden wird auch das Motiv der „Kannibalen“ als Konstruktion zwischen Eigenem und Fremden, als Symbol der imaginären Ethnographien, Gegenstand der Betrachtung sein. Die Frage ob und in wieweit Anthropophagie überhaupt praktiziert wurde, ist auch in diesem Zusammenhang nebensächlich und wird ausgeklammert.[61] Das Fehlen gesicherter Fakten hat nicht verhindert, dass der Kannibalismus zu einem universalen Konstrukt kollektiver europäischer Imaginationen geworden ist. Es waren nie die „echten Kannibalen“, die zum Gegenstand der Beschreibungen über sie geworden sind, auch kann bis heute kein einziger Bericht als Augenzeugenbericht kannibalischer Praktiken gewertet werden. Vielmehr wurden die imaginären „Kannibalen“ zum Leben erweckt. Durch die Frage nach dem konstruktiven Gehalt kannibalischer Motive und Metaphern, also der Dekonstruktion kolonialer Argumentations- und Vorstellungsweisen wurde der Blick auf die eigene Kultur gerichtet (Fulda 2001: 11-10).
Die Anthropophagie berührt existentielle Bereiche des individuellen und kollektiven Lebens und ist wohl auch deshalb bis heute ein so beliebtes Motiv im medialen Raum. Krieg, Kulturkritik, Liebe oder Fremd- und Selbstdefinitionen sind hier an erster Stelle zu nennen. Die Konstruktion von Andersheit bestimmt dabei die kulturelle Funktion, so Daniel Fulda (Fulda 2001: 29). Der Verzehr von Menschen ist hier nur vordergründig thematisiert und die Bedeutung geht weit darüber hinaus. Es geht um Einstellungen zum Körper, zu den Körpersubstanzen, um Nahrungsgewohnheiten, soziale Beziehungen, um Geschlechterverhältnisse und Generationenkonflikte und politische Herrschaftsverhältnisse (Röckelein 1996: 17). In Eroberungszusammenhängen wird der Kannibalismus häufig verwendet um den eigenen Anspruch auf die zu erobernden oder eroberten Gebiete ideologisch abzusichern.[62] Kannibalismus tritt hier vor allem als Beschreibung zügelloser, auch sexueller Triebhaftigkeit auf. In den Ausschmückungen kannibalischer Praktiken treten die in der eigenen Gesellschaft tabuisierten Bereiche, zum Beispiel sexuelle Freizügigkeit, Inzest oder bestimmt Nahrungsaufnahmen, in den Vordergrund. Das Bedürfnis der abendländischen Gesellschaften eine feste Grenze um sich zu ziehen, wird hier deutlich (Fulda 2001: 10) und es tritt der identitätsschaffende Gegensatz von Kultur zu Natur oder Zivilisation zu Barbarei in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen.
Auch die Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts stützten ihre Berichte von kannibalischen Praktiken nicht auf eigene Erfahrungen, sondern gaben bereits früher verarbeitete Motive wieder, die dann erneut in den Bildzeitschriften aufgegriffen wurden. Die Darstellungen sind dementsprechend in einen dramaturgischen Kontext zu stellen und geben Auskunft über die Phantasien und Vorstellungswelten der Schreibenden. Nach Wolfgang Struck sind es keine individuellen Phantasien, die hier wiedergegeben werden. „Es ist eine kollektive Phantasie, oder mehr noch: es ist ein vielfach abgesichertes Wissen.“ (Struck 2001: 170). In den unterschiedlichsten Medien des wilhelminischen Deutschlands tauchten Berichte über Kannibalen wie selbstverständlich auf, als könnte es eine Fremde ohne nicht geben.[63] In Reiseberichten, Erzählungen oder Romanen wurden kannibalische Praktiken beschrieben und in den Völkerausstellungen konnten sich „echte Exemplare“ bestaunen lassen, so die Ankündigungen (Schwarz 2001: 56). Dem englischen Afrikareisenden und Journalist Henry Morgan Stanley scheinen viele Kannibalenszenen des 19. Jahrhunderts als Vorbild gedient zu haben. Kannibalische Praktiken aus seinem populären Reisebericht „Through the Dark Continent“, der 1878 ins Deutsche übersetzt wurde, wurden vielfach ohne Modifikationen übertragen (Benninghoff-Lühl 1983: 75).[64] Der Stoff wurde von zahlreichen Autoren aufgegriffen und verarbeitet. Das Wissen über „Kannibalen“ war zu einem Allgemeingut geworden, was die Darstellungen des Kannibalenmotivs in der Gartenlaube bestätigt. Das Generalregister der Gartenlaube enthält unter dem Begriff „Menschenfresser“ mehrere Eintragungen. Die dazugehörigen Artikel finden sich ausnahmslos in der Unterhaltungsecke der Zeitschrift und werden dort in wenigen Sätzen neben dem Kreuzworträtsel abgehandelt.[65] Aber auch die nicht direkt dem Kannibalismus gewidmeten Artikel enthalten zahlreiche Verweise auf kannibalische Praktiken, die in der Gartenlaube vor allem mit Neu-Guinea in Verbindung gebracht wurden (vgl. Finsch 1887b: 461). Anthropophagie wird in der Gartenlaube durchweg als ritueller Exo- oder Endokannibalismus beschrieben. In der Kolonialliteratur in Kolonie und Heimat, aber auch in den Kolonialromanen wird vorzugsweise das Bild vom Hungerkannibalismus, der vor allem mit Schwarzafrika in Verbindung gebracht wird, zu einem wiederkehrenden Motiv.
Die Existenz von „Kannibalen“ gehörte zum Allgemeinwissen der damaligen Zeit und die Autoren konnten dieses Wissen scheinbar voraussetzten. Von seriösen Stellen bestätigt, kam kein Zweifel an der Echtheit der Quellen auf. Ein sehr treffendes Beispiel für eine seriöse Quelle ist hier der Universitätslehrer Georg Thilenius[66], der Autor des Artikels „Androphagen“ für das Deutsche Koloniallexikon[67] war. Hier heißt es:
„Vor 20 Jahren etwa war gekochtes Menschenfleisch gelegentlich noch bei den Stämmen an der Blanchebucht, Bismarckarchipel, auf dem Markte zu haben; erst der Einfluß der Europäer hat in Melanesien wie in Afrika den offenen Verkauf verdrängt. Ursprünglich besteht anscheinend Widerwille gegen den Genuß von Menschenfleisch, wenigstens erhalten es in Melanesien die Kinder als Schweinefleisch und werden erst später nach dem Genusse aufgeklärt, wonach häufig Erbrechen erfolgen soll. Erst später tritt Gewöhnung ein“ (Thilenius 1920a).
Wolfgang Struck hat zeigen können, dass sich zwischen dieser Beschreibung von Thilenius und einer weiteren Quelle eine Verbindung ziehen lässt. Thilenius hat seine Informationen in diesem Fall von seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Augustin Krämer erhalten. Augustin Krämer wiederum beruft sich in dem Vorwort zu einer Reisebeschreibung seiner Frau, mit dem Titel „Kannibalen auf Neu-Mecklenburg“ auf Ludolf Kummer, der einen Artikel in der Zeitschrift Kolonie und Heimat in der Rubrik „Allerlei“ veröffentlicht hatte.[68]
Zerstückeltes, warmes Schweinefleisch gab es in Mengen und auch mir wurde ein dem Schweinefleisch ganz ähnlichessehendes Stück serviert. Ohne mich lange zu besinnen, wollte ich hineinbeißen, als ich von hinten einen gelinden Stoß bekam und mir mein ›Tambu‹ Lumbei von Pottmilack zuraunte, iß es nicht, das ist Menschenfleisch! Es wurde mit in dem Moment doch etwas übel zu Mute, aber die Geistesgegenwart verließ mich nicht. Das gelblich weiße, mit Fett durchsetzte Stück dem neben mir sitzenden Keindot gebend, meinte ich, ich möchte gern ein Stück kaltes Schweineohr haben, das äße ich lieber, als das heiße Fleisch. So kam ich um mein erstes Stück Menschenfleisch (Kummer 1913: 12-14).
Eine Gier nach kannibalischen Praktiken drückt sich nach Struck in diesem unseriösen Umgang mit Quellen aus (Struck 2001: 173), der nicht die Ausnahme, sondern die Regel war. Ausnahmslos alle Darstellungen von kannibalischen Praktiken berufen sich auf Schilderung aus zweiter Hand und führen diese als Beweis an. Sie werden nicht hinterfragt, sondern gierig aufgegriffen und kritiklos in die eigenen Feldforschungsberichte, Romanhandlungen und Autobiographien eingestreut. Der ethnologische Feldforschungsbericht wird so gleichzeitig zu einer abenteuerlichen Reisebeschreibung (Struck 2001: 174).
In den beiden ausführlich zitierten Beispielen werden einige immer wiederkehrende Darstellungsweisen bemüht. In seriöseren Quellen wird von Kannibalismus in der Vergangenheitsform berichtet, es hat sie bis vor kurzem, oder wie bei Thilenius vor 20 Jahren, noch gegeben (Struck 2001: 178). Auch Kummer ist nicht wirklich Augenzeuge kannibalischer Praxis geworden, sondern erweckt durch die indirekte Benennung, „es wurde ihm gesagt, dass es sich um Menschfleisch handele,“ den Eindruck, er wäre Augenzeuge einer „Kannibalenmahlzeit“ gewesen. Das eigentliche anthropophage Motiv wird nicht beschrieben, sondern durch eine Metapher angedeutet, was eine überaus verbreitete Praxis im Umgang mit Berichten, die sich auf eigene Erfahrungen oder Forschungsaufenthalten stützen, ist. Fulda erklärt dieses Vorgehen mit dem eigentlichen Fehlen kannibalistische Augenzeugenberichte und nennt ein solches Vorgehen „motivisch-metaphorische Interferenzen“ in Bezug zu tierischen Speisen die metaphorisch anthropomorphisiert werden, wodurch ein großer Spielraum für eigene Interpretationen eröffnet wird (Fulda 2001: 25).
Eine weitere gängige Charakterisierung ist die Beschreibung der als Menschenfleisch kenntlich gemachten Speise als sehr unappetitlich bis ekelerregend. Das Fleisch ist meistens hart und zäh, gelblich gefärbt und immer ausgesprochen fettig. Die Nahrungsaufnahme als körperliches Grundbedürfnis und kulturelles Symbol zugleich, das mit zahlreichen Ge- und Verboten belegt ist, wird hier zu einer starken Metapher, indem die Essenspraktiken der Kannibalen als besonders abstoßend und gegen alle Normen verstoßend dargestellt werden. Bilder, in denen nackte Menschen gebratene, menschliche Körperteile mit Genuss verspeisen und sich dabei, während Blut und Fett heruntertropfen die Finger lecken, sind seit dem 16. Jahrhundert gängige Darstellungen kannibalischer Mahlzeiten. Auch im 19. Jahrhundert wird dieses Motiv aufgegriffen. Schon die Essenspraktiken gewöhnlicher „Wilde“ verstoßen gegen europäischen Gebote. Sie werden in der Begriffswahl dem Tiere zugeordnet, denn „Wilde“ essen nicht, sondern „fressen“, und zwar alles was ihnen in die Hände kommt, sogar verwestes Fleisch, um nur einige der gängigen Zuschreibungen zu nennen (KuH 1910: 13). In der Darstellung kannibalischer Akte wird eine weitere Steigerung dieser schon im Normalfall als abstoßend empfundenen Nahrungsaufnahme erzielt. Ekel als Motiv wurde gerade in den Anthropophagiedarstellungen zahlreich aufgegriffen (Fulda 2001: 26). Ekel eignet sich hervorragend, um den Eindruck des Schrecklichen zu transportieren. Das Ekelhafte lässt sich in die eigene Welt nicht integrieren, es sprengt jegliche ästhetischen Konventionen, auch weil es durch die mediale Vermittlung als Motiv kaum an Wirkung verliert (Fulda 2001: 26-27).
Mit der industriellen Fertigungs- und Rezeptionsweise scheint ein Konkretisierungsprozess vorher indifferenter Vorstellungen und Bilder einherzugehen. Die Rotation presst die geahnten Bilder in konkrete Formen. Möglichst hohe Auflagen werden nur erzielt, in dem breite Bevölkerungsschichten über den kleinsten gemeinsamen Nenner angesprochen werden. Lange und komplizierte Erklärungen, differenzierte Betrachtungsweisen, (die durchaus schon zur damaligen Zeit vorlagen) stehen dem Ziel der Auflagensteigerung im Wege. Je konkreter das Bild, desto höher die Popularität. So wurden in Kolonie und Heimat Kannibalismus thematisieren Artikel mit Fotografien versehen. Wie der zweiseitige Artikel „Der Kannibalismus in seinen Ursachen und Zuständen“ (Mähler 1910: 7-8) zeigen die Fotografien den Vorstellungen von „Wilden“ entsprechende Menschen, in diesem Beispiel Lendenschurz, dunkle Hautfarbe und lange, verfilzte Haare. Die Bildunterschrift lautet: „Menschenfresser auf Neu-Guinea“ (Mähler 1910: 7). Die Fotografie als die Wirklichkeit ablichtendes Instrument verlieh den imaginären „Kannibalen“ nun ein reproduzierbares Aussehen. Zweifelsohne spielt das Bedürfnis nach einer Überprüfung der zuvor nur geahnten und erzählten Geschichten aus fernen Ländern eine große Rolle. Kolonie und Heimat präsentiert der Leserschaft besonders zahlreiche „Kannibalengeschichten“. Als Beispiel sei hier aus der Rubrik Artikel der Artikel „Menschenfresserei in Sumatra“ in Auszügen angeführt:
„Bei den Maka ist bekanntlich heute noch die Menschenfresserei im Schwange. (…) Von anderen Stämmen werden Personen eingekauft, in Sklaverei gehalten, gemästet und hierauf wie ein Stück Vieh geschlachtet und verspeist. Nur den wohlhabenden Mitgliedern bietet sich immer die Möglichkeit, über frisches Menschenfleisch zu verfügen (…). Der Person, welche genügend Fett angesetzt hat, um zum Schlachten reif zu sein, wird an dem Tage, an dem sie fällig wird, verkündet, dass sie jetzt sterben müsse. Der Betreffende wird nun gefesselt, aus seinem Gewahrsam geschleppt und ohne viel Umstände zu einem Schlachtbock geführt, wo er durch einen Beilschlag in den Nacken getötet wird. Vorzugsweise werden dann als besondere Delikatesse das Hirn und die Augen genossen; die fetten Fleischteile röstet man auf offenen Feuer. (…)“ (KuH 1910, Nr. 35: 12)
In diesem Beispiel wird das Bild des Hungerkannibalismus bemüht, der in den Augen der Europäer als besonders abstoßend galt. Menschen werden „eingekauft, in Sklaverei gehalten, gemästet und hierauf wie ein Stück Vieh geschlachtet und verspeist“ (Ebd.). Die „Kannibalengesellschaft“ wird zu einer in allen Bereichen pervertierten Gesellschaft. Als Symbol des kulturell Fremden schafft das Kannibalismusmotiv eine nicht zu überwindende Kluft zwischen der eigenen, der vertrauten und der fremden, der gefahrvollen Welt.
Anthropophagie als eine Variante des Essens löst zahlreiche tief verankerte Emotionen aus und sprengt neben den ästhetischen Konventionen auch Konventionen, die sich auf den gesamten menschlichen Körper beziehen. Das hier zum Tragen kommende Körperkonzept entwirft den europäischen, oder wie Rosa B. Schneider sagt, den weißen Körper, als einen individuellen und nach außen abgeschlossenen Körper und stellt diesem einen kollektiven und unbegrenzten kannibalischen oder schwarzen Körper gegenüber. „So sehr die weiße Körpervorstellung dabei das Negativbild eines schwarzen Körpers braucht, um sich gemäß der binären Logik überhaupt konstituieren zu können, so sehr gerät ihr gleichzeitig das selbst entworfene Negativbild zum Schreckensbild, das den weißen Körper bedroht.“ (Schneider 2003: 130). In die obsessive Beschäftigung mit dem fremden Körper gerade auch von kolonialen Schriften, lässt sich zum einen die Angst vor der Vermischung mit einem anderen, fremden Körper erkennen und zum anderen die Angst durch diesen fremden Körper auszusterben. Dies sind nach Schneider zwei Hauptthemen mit denen sich die Kolonialautorinnen beschäftigten (Schneider 2003: 130). Auch Daniel Fulda sieht in dem Motiv des kannibalischen Essens die übergeordnete Metapher für Assimilation und Vernichtung zum Ausdruck gebracht (Fulda 2001: 14). In der Beziehung von Körperlichkeit und Kannibalismus ist daneben die Tatsache zu sehen, dass in den Reiseberichten Frauen besonders häufig mit kannibalischen Motiven in Verbindung gebracht werden (Fulda 2001:11 mit Verweis auf Schülting). Die Körperlichkeit der Fremden, Ess- und Trinkgewohnheiten, aber auch Geburt, Tod, Sexualität, Ausscheidungen, Verwesung, Krankheit und Schwangerschaft, alle diese Themen wurden im medialen Raum im Rahmen kannibalischer Berichte abgehandelt. Wolfgang Struck fasst die Funktion des Kannibalismus für die Abenteuernarration treffend zusammen:
„… als eines der nachhaltigsten Tabus europäischer Kultur markiert er [der Kannibalismus, Anm. d. V.] automatisch den von ihm besetzten Raum als »fremd« (…); und er stellt eine Gefährdung für die physische wie die psychische und soziale Identität des Helden dar, je nachdem ob der zum Gegessenen oder zum – sei es auch unfreiwilligen – zum Mitesser wird“ (Struck 2001: 174).
Die Reise- und Erlebnisberichte der Bildzeitschriften sind von dem Bild dieser äußeren und inneren Gefährdung durchzogen wie sie Struck beschreibt. Der Gegensatz von Kultur versus Natur und in diesem Fall von „Kopf vs. Bauch“ (Fulda 2001: 15) lässt die Grenzen zu dem Anderen immer undurchdringlicher werden. Darüber hinaus verweist das Kannibalismusmotiv auf die eigene Gesellschaft, in dem der Wunsch, tabuisierte Grenzen zu überschreiten und Normen zu verletzen zum Ausdruck gebracht wurde. Die besondere Popularität von „Kanibalengeschichten“ im medialen Raum des wilhelminischen Deutschlands übernahm somit eine Ventilfunktion für das stark reglementierte und sinnliche Erfahrungen tabuisierende bürgerliche Selbstverständnis.