6.2 Die Requisite
6.2.1 Materielle Kultur
Waren es bis zum 18. Jahrhundert die Kuriositätenkabinette des Adels und einiger gelehrter Sammler, die einen Einblick in fremde und exotische Welten versprachen, übernahmen im 19. Jahrhundert zunächst die Weltausstellungen ab 1851 und später die ethnografischen Museen diese Funktion. In den Weltausstellungen, so Stefan Goldmann, „wurde der leitende Gedanke der »Kunst- und Wunderkammern«, die Welt in einem Mikrokosmos vorzustellen, in bisher nicht gekanntem Ausmaß verwirklicht.“ (Goldmann 85: 253). Die europäischen „Hochkulturen“ feierten sich und ihren Fortschritt, ihre Technik und Kulturleistungen. Die Welt nun in ihrer Gänze erklären und „nach dem eigenen Bild formen zu können“, so Goldmann, wurde zum Sinnbild dieser Zeit. Auf den Weltausstellungen feierte die europäische Kultur sich selber in „rauschhaften Festen“, was allerdings auch Ausdruck der eigenen Verunsicherung angesichts der technisch rasanten Entwicklung und den bedrohlichen Inszenierungen einer fremden Welt außerhalb des Bekannten im 19. Jahrhundert war (Goldmann 1985: 254).
Mit den ethnografischen Museen kam ein weiterer Aspekt hinzu, den die temporären Ausstellungen nicht erfüllen konnten. Die vergänglichen Ausformungen einer als im Verschwinden begriffenen archaischen Lebensweise konnten nun konserviert und für die Nachwelt erhalten werden. Das 19. Jahrhundert war geradezu von einer Jagd nach Überresten, die einen Einblick in die Anfänge der Menschheitsgeschichte geben sollten, getrieben, wofür die Namen Adolf Bastian (1826-1905) und Leo Frobenius (1873-1938) stellvertretend stehen. Die ethnografischen Sammlungen dieser Zeit sind Ausdruck des Geschichtsverständnisses im 19. Jahrhundert und spiegeln die Vorstellung von einem geschichtslosen Naturzustand der Menschheit wieder, der nicht in den Zeugnissen lebender Kulturen, sondern in den materiellen Überresten vergangener Zeit aufzuspüren sei. „Bastians Sammlung, das ethnographische Museum, sollte die Textsammlung des Philologen ersetzen.“ (Kramer 1977: 76), so Fritz Kramer, der wohl völlig zu Recht von „einer gigantischen Plünderungsaktion“ spricht (Kramer 1977: 78). Im medialen Raum des wilhelminischen Deutschlands haben diese „Plünderungsaktionen“ in vielfacher Weise einen direkten Widerhall erlebt.
Annie E. Coombes spricht mit ihrer Arbeit über die Darstellung von Afrika in England zwischen 1890-1913 genau das Verhältnis von wissenschaftlicher Repräsentation fremder Kulturen und deren Wirkung auf breite Bevölkerungsschichten an (Coombes 1995:3). Nach Coombes fungierten die ethnografischen Sammlungen in den lokalen und nationalen Museen, sowie die nationalen und regionalen Ausstellungen von Afrikanern samt ihrer materiellen Kultur als die zwei Bereiche des öffentlichen Lebens, die maßgeblich an einem Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beteiligt waren. Die Museen reagierten außerdem auf die visuelle Reizüberflutung der Moderne mit neuen Konzepten. Bewusst und gezielt sollte die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Eine Ausrichtung die Klaus Richter-Müller treffend beschreibt: „Somit erscheint das Museum um 1900 als Ausdruck und Beispiel einer Seh-Kultur der Aufmerksamkeit, die auch das Populäre, die Attraktion und das Spektakel der Großstadt in die Didaxe seines Sprechens aufnimmt und funktionalisiert“ (Richter-Müller 2003: 195). Wichtig ist diese Feststellung für die Frage nach der Konstruktion des Fremden in dem öffentlichen und populären Raum. Das Fremde wird, wie Richter-Müller, „in komplexen Ökonomien des Blicks inszeniert“ (Richter-Müller 2003: 195). Diese „Ökonomie des Blicks“ setzte sich in allen Formen der Repräsentation des Fremden durch, gerade auch in den Medien.
Die selektive Präsentation, sowie die ohnehin schon sehr selektive Sammlung von Ethnografika führte dazu, dass bestimmte Gegenstände wie Waffen oder Ritualobjekte überproportional vertreten waren und zu den Repräsentanten einer ganzen Kultur wurden. Die Darstellungen von Waffen, vorzugsweise der Speer und Schild, fehlten nun selten in einer Inszenierung von „primitiver Wildheit“. Ebenso wie es keinen Indianer ohne Federschmuck geben konnte, sollten die Inszenierungen Erfolg versprechend verlaufen (Dreesbach 2005: 176). Im Karneval leben diese zwingend zu einer Figur der Fremde zugehörigen Requisiten bis heute fort. Erneut ist es das Prinzip der Ordnung, das einer chaotischen Unordnung weichen soll. So stark standardisiert wie die Requisite war sonst kein Aspekt des imaginären Fremden.
6.2.2 Fetisch
Alles was zur Funktion in der Inszenierung des Fremden zur materiellen Kultur gesagt worden ist, trifft ebenfalls auf die Ritualgegenstände zu, die in den Medien des wilhelminischen Deutschlands meist „Fetische“ genannt wurden. Heute würden sie in der Ethnologie als „sakrale Objekte“ bezeichnet werden (Kohl 2003: 117). Der Fetisch wurde zu einem Symbol für heidnische Naturreligionen, für Aberglaube und die Abwesenheit von Zivilisation und Kultur. Die autochthonen Bewohner Schwarzafrikas aber auch verschiedener Inselgruppen im Pazifik wie Papua-Neuguineas wurden zum Inbegriff heidnischer Götzendiener und fetischistischer Verehrungen. Der Fetisch gehört damit auf der imaginären Landkarte zu den Gebieten der bisher unbezwungenen Wildnis, die Anhänger zu heidnischen „Wilden“ und „Primitiven“. Ob „Fetischhäuser“ (Finsch 1886b: 192), „Ahnenfiguren“, „Geisterhöhlen“ (KuH 1910, Nr. 4: 2-3) oder „Fetisch-Leute“ (KuH 1911, Nr. 7: 7), alles wurde unter den Begriffen „Fetisch“, „Fetischkult“ oder „Götzen“ abgehandelt und zu einem wichtigen Thema im medialen Raum.

Abbildung 6 gibt prototypisch die gängigen Kennzeichnungen in der den Sammelbildern eigenen verspielten Art wieder. Die enge Verbindung in den Vorstellungen von einem „primitiven“ Leben und dem Fetischkult wird hier deutlich. Eine Auswahl der erwähnten Standardrequisiten fehlt nicht. Die aufgehängten kindlichen Figuren an dem Baum sind eine recht drastische visuelle Umsetzung der europäischen Vorstellungen von Fetischisten. Die Sammelbilder wurden von Kindern gesammelt, denen so ein Eindruck von der fremden Welt vermittelt wurde als einen besser nicht zu betretenden Ort.
Der Begriff „Fetisch“ geht auf das Mittelalter zurück. Dort war er ein Zeichen für Aberglaube oder Teufelsanbetung. Im 15. Jahrhundert taucht er dann zum ersten Mal in portugiesischen Reiseberichten auf, übertragen auf Kultobjekte der westafrikanischen Küste (Kohl 2003: 15). Dort, so Karl-Heinz Kohl, fanden sie nur „was zu finden sie erwartet hatten“ (Kohl 2003: 16). In ihrer eigenen Kultur wurden ähnliche Objekte, die nicht den einzig wahren christlichen Glauben repräsentierten mit aller kirchlichen Macht bekämpft und diese Bewertungskriterien wurden auf die Objekte der fremden Kultur übertragen. Es war nach Kohl die Verehrung eines Gegenstandes, eines materiellen Objektes, das als „selbstwirksame Wesenheit“ betrachtet wurde, die zu einer radikalen Abwehr von Seiten der westlichen Welt führte (Kohl 2003: 28). Anders als der Reliquienkult in Europa wurde der Fetischismus als ein verdrehtes, teuflisches Werk gesehen und weist doch wieder auf Europa zurück.