Das Märchen von „Cancel Culture“ vor dem Hintergrund rechter und linker identitärer Politiken
Mit „das wird man ja noch sagen dürfen“ fängt es an. Dann kommt ein BLABLA, sinnfrei, unnütz, belanglos, aber in eine zuvor stilisierte Wunde getrieben, die damit erst aufgerissen wird, Doppelte Aneignung um einen Vertretungsanspruch zur heiligen Mission zu machen. Marketing.
Unten gehen wir auf historische Aspekte der populistischen Wellen ein, hier auf aktuelle Aspekte. Immer steht im Fokus zu behaupten, es gibt eine tiefe Spaltung, es gibt Dinge die nicht gesagt werden dürfen, und deshalb sei es zu einer Spaltung gekommen. Unten ackern wir uns durch einen wilden Mix aus Maskulin und diversen Genderformaten, normalerweise verwenden wir den Doppelpunkt, weil das Sternchen in komplexen Texten sehr viel mehr Funktionen erfüllt als nur Gender zu sein. Außerdem sieht es aus wie ein Fliegenschiss*1.
Das wird man ja wohl noch sagen dürfen – oder – wow – so radikal. Die aktuelle Fortführung des „Sagbaren“ sind identitäre Politiken, von rechts und links, zu denen auch das Postulieren einer angeblichen Mitte gehört. Doch wirklich real sind nur Gräben, die durch soziale Spaltung der Klassengesellschaft entstehen. Das ist im übrigen längst bewiesen. Die von den rechten und linken Populisten und Identitären vorgebrachten Ursachen für angebliche Gräben, die überwunden werden sollen etc. sind nicht ernsthaft belegbar. Genau sowenig ist belegbar, dass es etwas gibt, was man nicht sagen könne. Alles Bullshit. Abgesehen von Holocaustleugnung und Hass und Hetze, kann alles gesagt werden, wir brauchen diese künstliche Radikalisierung nicht, sie ist ein populistisches Hirngespinst, was Emotionen triggern soll, um sie in Kapital, kulturell, sozial, politisch, ökonomisch zu verwandeln.
*1 genau
Update 09.10.2021
Kurz ist weg. Hoffentlich lang. Österreich ist noch da.
Update Ende
Update 11.09.2020
Asselborn hat Recht.
Typen wie Kurz
Typen wie Kurz geben den osteuropäischen Staaten, die durch seltsamste Demokratieinterpretationen auffallen, ein Rückgrat, was sie nicht hätten, ohne das Ibiza Genie Kurz (s. u.). Österreich gilt immer noch als ein aufgeklärtes, westliches Land. Was spätestens seit Haider und der folgenden Regierungsbeteiligung der FPÖ auf Bundesebene nicht stimmt. Aber gerade diese Vorstellung – Österreich sei ja „normal“ – ist es, die die letztlich rechtsnationalistische Positionen hoffähig macht. Österreich ist lange ausgeschert aus dem Kreis der liberalen Staaten Westeuropas und hat sich lange und schleichend als hegemonialer Treibstoff der Reaktion etabliert. Wenn wir die EU verlieren, dann verlieren wir alles. Und deshalb schenkt Swashmark Asselborn persönlich – Sarajevo:
Die Bürger:innenn der Alpenrepublik sollten endlich von Kurz und der FPÖ ablassen und nicht länger auf derartig albernen „Schmäh“ hereinfallen. Es wird kein gutes Ende nehmen.

from mail art call new world order
Einer der selbst inszenierten Dissidenten
Der alte Reichstag im Spreewaldgurkenglas … hübsch eingelegt, mit Dill verziert, von echtem Senfkorn, alter Kasten… ach ja, und wenn man dann so mit seinen Augen und Sinnen die authentisch aufgehübschte Fassade entlangkriecht, die Fenster, die Säulen, dass dem Volke all die Einschusslöcher in die Protokolle… dann könnte man glatt zum Reichsromantiker werden:
Staatstragender Antifaschismus, eine leere Erinnerungskultur, Denkmäler und Stolpersteine, Schulbücher, etc., etc. – alles symbolische Gesten, Kranzabwurfritualen gleich – taugen weder als Geschichtsaufarbeitung noch als wirksame Imprägnierung gegen faschistische Bestrebungen. Das ist die Lehre und die Leere.
Daneben zeigen die Ereignisse erneut und ganz klar das komplette, geschlossene und institutionalisierte Versagen im Kampf gegen Rechts. NSU, KSK, Hessische Polizei, Mord an RP Kassel … das kommt aus Institutionen und ist kein bloßer Straßenfaschismus mehr, das ist kein Zufall.
Antifaschismus – dies können wir nur selbst tun, jede:r. Es geht nicht um den Reichstag, der kennt das ohnehin alles schon. Es geht darum, die Machtfrage im/um (den) öffentlichen Raum zu stellen. Und genau dies war schon die entscheidende Taktik der echten Nazis – davor werden uns Parlamente heute wie damals nicht schützen können.
Einer der selbst inszenierten Dissidenten mit den wirren Theorien, die nur der eigenen Auflage dienen sollen, bleibt aus der Sozialdemokratie ausgeschlossen. Oh nein, jetzt stehen die Türken vor Wien und nur noch Ibiza-Genie-Persilhaider Kurz wird sie zurückschlagen können. Wie das ausgeht, dürfte klar sein: Der Prater wird an Erdoğan verkauft, der macht daraus ein islamisches Lustzentrum, aber nur für Würdenträger. Das hätte die SPD verhindern können, wenn sie S. zum Vorsitzenden statt zum Ausgeschlossenen gemacht hätte. Für S. gehts jetzt an einen anderen Ort – für 23 Schilling…
Die Ostgesellschaften waren wesentlich homogener
Die Ostgesellschaften waren wesentlich homogener und viel weniger mobil als die Westgesellschaften, der Sprung war extrem. Aber auch die ehem. Westgesellschaften sind immer diverser und mobiler geworden, wurden ökonomisch hochgetaktet. Zwar strebte zunächst alles in Richtung westliche Diversität, doch gleichzeitig schlug die ökonomische Realität zu. Eine Sehnsucht nach Elementen der alten Geordnetheit setzte ein. Früher waren die Staatsparteien ein Garant der Homogenität, sie etablierten Rituale und boten damit homogene Identitätsoptionen. Nun sind es Erzählungen von Nation, von In und Ausländer, Geschichten aus der Zeit der Nationenwertung am Ende des 19Jh., die bemüht werden, um Identitätsmuster anzubieten. Diese Geschichten hatten seinerzeit einen Sinn, den haben sie heute auch, aber natürlich nicht mehr den Sinn, Nationen erstmals zu formen, dazu müsste man sie ja zunächst rückabwickeln. Davon sind wir Lichtjahre entfernt. Auch Konzepte wie die EU sind ja letztlich nationalstaatliche Weiterentwicklungen, aber kein Ende der Nation. Daher sind diese Gesten auf den ersten Blick leer und grotesk.
Wer gegen die homogenen Identitätsstrukturen des Ostens etwas anderes setzte, war dissident. Jetzt aber ist die Partei das Böse, die Dekadenz, eben die aktuelle Demokratie geworden, oder besser ein Zerrbild davon.
So, es ist nun ungemein dissidentisch gegen diese post-modernen Demokratien ein ethnozentristischen Nationenmodells aus dem 19Jh. zu setzen, was natürlich niemals funktionieren wird, da die Rahmenbedingungen völlig andere sind. Ein 19Jh.-Modell hat seinerzeit die Entfaltung des Kapitalismus ermöglicht. Heute bedeuten solche Konzepte den ökonomischen Ruin, den Verlust der Anschlussfähigkeit an internationale Wertschöpfungsketten. Diese Ketten konnten nur durch eine Weiterentwicklung des 19Jh. Nationenkonzepts entstehen.
Dennoch, trotz der ökonomischen Aussichtslosigkeit solcher Modelle werden diese Sehnsüchte nach einfachen, homogenen Identitätsoptionen von den Populisten erzeugt und bedient. „Amerika First“ beim Insolvenzverwalter und beim Sterben durch Corona. Das ist die Realität. Die ist nicht wichtig für Populisten, das reicht immer noch nicht, sie benötigen einen Turbo und genau der ist die Geste des Dissidenten. Damit erreicht man die nebulöse emotionale „Unzufriedenheit“ vieler Menschen. Außerdem kommt aus dieser dissidentischen Haltung der Aktionismus, der die Straße erobern soll.
Mit „das wird man ja noch sagen dürfen“ fängt es an
Mit „das wird man ja noch sagen dürfen“ fängt es an. Von dem Moment an, der behauptet, man dürfe etwas nicht sagen, ist man Dissident, wenn man es sagt. Vom Trottel und nicht anschlussfähigen „Assi“, mit seinen holen Phrasen, zum Dissidenten. Das ist eine unglaubliche Beförderung, die auch Gruppen von Dissidenten eint und ihnen eine festigende Struktur gibt. Ja, das Dissidententum wird eigentlicher Lebensinhalt.
Das genau ist Haiders Verdienst. Das vollkommen Triviale, unwissenschaftliche, antiaufklärerische wurde in den Dissidentenstatus erhoben und damit darf man endlich jeden Blödsinn skandalisieren, denn es ist ja alles Ausdruck der Diktatur des „Multikulti“ etc. Er war der Prototyp des neuen Dissidenten. Heute ist jeder Populist ständig bemüht, seine Rolle als Dissident zu betonen. Dass dies so gut funktioniert, hat vor allem mit der westlichen und östlichen Dissidentenrezeption während des Kalten Krieges zu tun.
Schauen wir uns mal den „Dissidenten“ an
Schauen wir uns mal den „Dissidenten“ an, den es heutzutage in der nicht populistischen Variante fast nur noch in Hong Kong, manchmal in China, bisweilen in Russland, Iran gibt.

Der Weinberg, der den Bürgermeister in die Lage versetzte eine Kiste Wein durch mich ausliefern zu lassen, an einen Dissidenten, für einen beschissenen Stundenlohn.
Ich habe früher einen Job als Lkw-Fahrer gemacht, um als junger Mann etwas dazuzuverdienen. Natürlich war der Job unterbezahlt und auch sonst ziemlich ungerechte Plackerei. Es ergab sich nun, dass der Bürgermeister von Würzburg dem Herren Lew Kopelew eine Kiste vom Würzburger Stein™ zukommen ließ. Diese verirrte sich just in die Spedition, in der ich seinerzeit Dienst tat. Ferner lag die Auslieferung des Weins in meiner Verantwortung.
Ich war damals relativ gut mit den Arbeiten Lew Kopelews vertraut und wollte ihn bei der Gelegenheit auch direkt über „mein unterbezahltes Arbeitsverhältnis™“ aufklären. Ich musste ihm einfach sagen, dass hier auch einiges im Argen lag. Ich schleppte also die Kisten hoch und Herr Kopelew bat mich tatsächlich herein. In seiner Wohnung hingen Fotos, Plakate, alles mögliche Zeug. Ich beschwerte mich über die schwere Kiste, die ich bei 30 Grad im Schatten hochschleppen musste, und wir wechselten ein paar Worte. Wie auch immer, er sah schon meinem schweißgebadetem Gesicht an, was ich ihm eigentlich sagen wollte. Er gab mir zwei Flaschen vom Würzburger Stein™ und wir verabschiedeten uns. Der Wein war gut, eine Woche später habe ich gekündigt.

Von © Rolf Krahl / CC BY 4.0 (via Wikimedia Commons), CC-BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5118548
Das Wort „Dissident™“
Eine Etymologie™ ergibt, dass wir es mit einer Anlehnung an das lateinische „dissidens (-entis)“ zu tun haben. Das Verb wäre „dissidere“, also etwa „von etwas entfernt, getrennt sein“. Die Bedeutung war zunächst gar nicht eindeutig. Zur Mitte/ Ende des 18Jh.’s etwa wurden Protestanten als „Dissidenten™“ bezeichnet. Dies soll zunächst ausreichen, denn Dissident ist neben den objektiv herleitbaren Fakten hauptsächlich ein Wort, welches zeigt, wie Sprache mit Ideologie befrachtet werden kann. So weit, dass ein Begriff unter bestimmten Voraussetzungen einen willkürlichen Sinngehalt erhält, derart mit einer Bedeutung aufgeladen werden kann, dass er sich eignet, um mit ihm Politik, also Meinung zu machen.

Officia lportrait of President Donald J. Trump, Friday, October 6, 2017. (Official White House photo by Shealah Craighead)
Das sind nicht wirklich tolle neue Erkenntnisse und sicher fallen jedem zig Wörter ein, für die das ebenso gilt. Einige werden einwenden, dies geht mit jedem Wort. Dem würde ich ohne Weiteres zustimmen, doch das Wort „Dissident™“ spielt eine besondere Rolle, wobei ich mich auf einen Teilaspekt, den des „Kalten Krieges™“ beschränken möchte. Es gab in der ehemaligen UdSSR von jeher Menschen, die gegen die angeblich sozialistische Herrschaft Einspruch erhoben.
Das Spektrum dieser Kritiker war dabei breit gefächert und konnte vom Trotzkisten™ über Basisdemokraten™ und Umweltschützer™ bis zu Erzkonservativen™ der orthodoxen Kirche reichen.
Uns im Westen
Uns im Westen, in der Regel allein durch die gängigen Massenmedien informiert, war es egal, aus welcher Ecke die kritischen Stimmen kamen, oder besser, wir wurden darüber nicht unterrichtet. Die weitere Information wurde durch die Verwendung eines Wortes überflüssig: „Dissident™“.
Dieses Wort war praktisch. Es wurde etwa ab 1949, vorwiegend in den USA, von vornherein als sprachliche Waffe im Kalten Krieg benutzt. Schnell verbreitete sich diese Sprachregelung im gesamten „freien Westen™“.
Im Endergebnis wurde uns so in der „Tagesschau“ und anderen Nachrichtensendungen immer wieder ein Update über dissidentische Aktivitäten im „Hinterland des Feindes™“ verabreicht. Doch es folgte nicht eine präzise Information über die politischen Ziele und Hintergründe dieses oder jenes „Dissidenten™“, nein der „Dissident™“ war gut, denn er war gegen „den Osten“.
Soweit ich mich erinnern kann, entstanden auch Wortkonstruktionen, die ganz interessant sind: „Dissidentenpärchen™“, „Dissidentengruppe™“ auch Länderkürzel waren üblich, also etwa „DDR – Dissident™“. Gerade DDR-Dissident soll mir mal bitte jemand genau erläutern, auch den feinen Unterschied zum „ČSSR – Dissident™“ und erst recht den zum „BRD-Dissidenten™“ oder gar zum „Östereich-Sissidenten™“[A-Dissident™ ].

Der Kalte Krieg war humorlos
Schon klar – sonderlich humorig ging es im Kalten Krieg leider auf keiner Seite zu. So richtig lustig machen wollte sich seinerzeit über dieses ganze „Dissidententum“ niemand, nein, die „Dissidenten™“ waren eine angesehene Gruppe. Natürlich übersahen die meisten im Westen dabei, dass viele der „Dissidenten™“ nun nicht gerade den „Privatkapitalismus LasVegasStyle™“ oder die repräsentative Demokratie oder die soziale Marktwirtschaft anstrebten.
Viele der „Dissidenten“ standen den westlichen Politik- und Wirtschaftsentwürfen ebenfalls kritisch gegenüber, aus vielen unterschiedlichen Motiven. Weiter muss man bedenken, dass oft schon absolute Kleinigkeiten wie ein falsches Wort in einem Text ausreichte. „Erisch Honeckä der Kleingartenvereinsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Kleingärten gab bekannt…“™ statt „Erich Honecker der Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Republik gab bekannt …“, das reichte zur Erlangung des „Dissidentenstatus™“.
Übrigens, Afghanistan™ – jeder, der damals etwas gegen die Sowjets in Afghanistan™ sagte und zudem in einem der Staaten des Ostblocks lebte, wurde gleich zum „Dissidenten“ befördert. Heute stehen wir selbst in Afghanistan™ und werden, meiner Meinung nach, das Land auch so verlassen wie die Sowjets seinerzeit, nämlich mit den Beinen in der Hand. (so kam es) Ach ja, haben wir schon, verlassen, wollte ich sagen. Aber das hat damit nichts zu tun. „Dissident™“, das Kultwort im Ost-West-Konflikt der alten, ordentlich aufgeräumten Kalten Kriegswelt, das war schön und die Familie versammelte sich vor der „Tagesschau“ um täglich über das Schicksal dieses oder jenes „Dissidenten™“ aufgeklärt zu werden.
Uns im Westen gab der „Dissident“ ein sicheres Zeichen, alles richtig gemacht zu haben, was uns auch in der Regel gleich davon abhielt, mal vor der eigenen Tür genauer hinzuschauen.
„Dissidenten“ im Westen, die gab es nicht
„Dissidenten“ im Westen, die gab es nicht. Das Wort war ganz allein den „Kritikern“ im Ostblock vorbehalten. Niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, eine Person aus der „Westdeutschen Friedensbewegung™“ oder vielleicht VertreterInnen der „68er-Revolte™“ oder der „Anti AKW Bewegung™“ als Dissidenten zu bezeichnen. Diese waren: „Revolutionäre™“, „Querulanten™“, „arbeitsscheues Gesindel™“, „Linksradikale™“, „Terroristen™“, „Chaoten™“ – aber „Dissidenten™“? Jener edle Heldenstatus des widerständigen „Kommunismus“-Kritikers wurde den wackeren West-Aktivisten niemals eingeräumt. Die höchste Form dürfte „Grüner“ oder „bei Greenpeace“ gewesen sein. Zwar nicht edle Helden, doch schon dicht am „Dissidenten™“.
Bei genauerer Betrachtung der Ziele jedoch kann man regelmäßig feststellen, dass die Unterschiede in den Forderungen der Aktivisten gar nicht mal so groß waren. „Schwerter zu Pflugscharen™“ war jedenfalls „dissident™“, „die Westdeutsche Friedensbewegung™“ z.B. war „DKP-unterwandert™“, „langhaarig™“, „chaotisch™“ und „arbeitsscheu™“.
Ein nicht unerheblicher Teil der „Dissidenten“ des Ostens
Ein nicht unerheblicher Teil der „Dissidenten“ des Ostens wurde übrigens mit den Argumenten vom Regime verfolgt, mit denen die westliche Bevölkerung ihren eigenen Kritikern begegnete: Also etwa: „Asozial™“, „Arbeitsscheu™“, „sozial desintegriert™“ etc. Jedenfalls wurden ihnen ernsthafte politische Absichten abgesprochen.
Letztlich führte dieser Wortgebrauch zu einer mehrfachen Entfremdung. Denn einerseits wurden die „Regime des Ostens“ auf eine böse Abstraktion reduziert und andererseits konnte Widerstand im eigenen Land als überflüssig, als unerwünscht gebrandmarkt werden, immer mit dem Verweis auf „die Dissidenten“, die nun wirklich allen Grund haben, gegen ihre Regierungen zu opponieren.
„Geh doch nach drüben!“
„Geh doch nach drüben!“, was auch umgekehrt funktioniert, woraus sich ein eigenwilliges „Deutsch-Deutsches™“ verbales aber auch reales „Hin und Her™“ ergab.
Die tatsächlichen Absichten der „Dissidenten™“ des Ostens, die eben meistens keineswegs das westliche Modell übernehmen wollten, spielten kaum eine Rolle. Dies hat ihren tatsächlichen Anliegen nicht geholfen, erfüllte aber seine Funktion im Kalten Krieg.
In der sehr langsam „auftauenden™“ Sowjetunion nach 1975
In der sehr langsam „auftauenden™“ Sowjetunion nach 1975 ergab sich dann eine allmähliche Steigerung, denn es ging zunehmend häufiger um die Aufnahme von „Dissidenten™“ im Westen. Auch hier zeigte sich wieder die ganze Palette der medialen „kalten Kriegsführung™“. Bis zu einem gewissen Grad gelang es, die „Flucht in den Westen“ mit der ideologischen Behauptung zu verbinden, der Westen sei das bessere „System“.
Instrumentalisierung und Verhöhnung der gezwungenen Exilant:innen
Die Flucht der „Dissidenten“ oder seine „Ausbürgerung“ dokumentiere, dass er die westliche Methode bevorzuge. Dies war eine Instrumentalisierung und Verhöhnung der gezwungenen Exilanten, die ihre Heimat in der Regel keineswegs verlassen wollten. Einigen von ihnen wie Lew Kopelew™ oder Wolf Biermann™ blieben auch im Westen unbequem und kritisch – nur Dissidenten – das waren sie nicht mehr, nun waren sie „der ehemalige Dissident™“.
Im Zentrum der „Blockteilung™“
Insbesondere in Deutschland spielte „Dissident™“ und Flucht eine große Rolle, denn direkt im Zentrum der „Blockteilung™“ gelegen, noch dazu als Staat nach 1945 geteilt, war der Konkurrenzdruck besonders groß. So musste jeder ankommende Schutzsuchende zum Statement für „die BRD™“ gerinnen und zum tapferen „Anti-Kommunisten™“ werden.
Warum waren sie Dissidenten?
Warum waren sie Dissidenten? Im Wesentlichen wird man dies auf „gegen die Kommunisten“, „konnte man nicht sagen, was man will“, „keine Reisefreiheit™“, „Lied wurde verboten™“, „Buch wurde verboten™“, „Film wurde verboten™“, „Kunstwerk darf nicht gezeigt werden™“ reduzieren können.
Durch diese Vereinnahmung wurde das eigentliche Werk der „Dissidenten™“ weder gewürdigt noch als für den Westen relevante Auseinandersetzung, über die Opposition zur Ostführung™ hinaus, begriffen. Die verbotenen Bücher, die Lieder, die Veröffentlichungen der „Dissidenten“ waren den meisten im Westen nicht bekannt, dies änderte sich auch nach der „Flucht in den Westen™“ nicht.
Im Gegenteil, die Berichterstattung verlief in Wellen und erfuhr ihren Höhepunkt kurz nach der Ankunft des „Dissidenten™“ bei uns. Sondersendung und dann ab: Liveschalte, Lesung, Konzert, Kranz, Orden, Gedenken, danach ebbte die Berichterstattung ab. Der „Dissidenten“ war nun ein „Ex-Dissident™“, denn im Westen, da gibt es keine „Dissidenten™“, das wäre auch gar nicht erforderlich, denn unsere Gesellschaft ist ja frei, so die unausgesprochene Logik.

Im Verlauf der „Ost-West Annäherung™“, mit „Mauerfall™“ und offenen Grenzen, haben diese Personen wie auf einen Schlag ihren Status verloren, sind keine „Dissidenten“ mehr, dürfen nun ja alles, was sie immer wollten.
Die Bandbreite „dissidentischer Aktivitäten™“
In der Zeit der Wende wurden zwar bestimmte Teile der „Dissidentenszene“ mit in die Organisationsprozesse der neuen Staaten einbezogen, doch waren dies in der Regel einzelne Personen an besonders herausgehobener Stelle. Vielleicht so jemand wie „Vaclav Havel™“ oder „Lech Walesa™“. Diese beiden machen übrigens die Bandbreite „dissidentischer Aktivitäten™“ deutlich, markieren sie doch sehr unterschiedliche Politik und Ideologieansätze, aber auch ganz verschiedene Persönlichkeitsmerkmale.
Die Regel war eine andere: Die alten „Eliten“ sind gewandelte, nun neu gewandelte Vertreter der neuen Ordnung. Die „Dissidenten“ und deren Organisationen sind von der Bildfläche verschwunden oder finden sich erneut im kritischen Lager. Diesmal allerdings als „Chaoten, Linksradikale, arbeitsscheues Gesindel, Autonome, Hippies, Punks, Hartz IV’ler oder was weiß ich.“
Dissidenten, die sind sie nun nicht mehr
Dissidenten, die sind sie nun nicht mehr, fliehen können se‘ auch nirgendwohin. Dissidenten gibt es eigentlich noch im „Iran™“ und in „Nord-Korea™“, vereinzelt auf „Kuba“, in Schleswig Hosstein, je nach wirtschaftlicher Großwetterlage auch manchmal in „China™“.
Wir im Westen, und dementsprechend nun auch im ehemaligen Osten, haben durch diesen langen und ideologischen Gebrauch des Wortes „Dissidenten™“ keinen Begriff für das, was „Dissidenten™“ eigentlich meint.
Die neuen „Gegner“ des globalisierten multikulti Establishments
Und dann kamen nach einiger Zeit die neuen „Gegner“ des globalisierten multikulti Establishments: Die rechtspopulistischen Dissidenten, die dem leidenden, unter Fremdherrschaft und Alt-Parteiendiktatur geknechtetem Volk wieder eine Stimme geben.
Tatsächlich geht es diesen Dissidenten aber darum, selbst zum Establishment zu werden, und das Volk ist ihnen spätestens dann scheißegal, wenn sie dies geschafft haben. Siehe Trump, siehe FPÖ, siehe Polen, Ungarn, UK, etc. Die Geste des Dissidenten ist aber unbedingt erforderlich, um für Empörung, Skandal und Aktion zu sorgen.
Das treibt die Leute auf die Straße und zur Urne. Zurück bleiben Anhänger, die ihre ganze Verelendung und den Missbrauch, der mit ihnen getrieben wurde, erst dann bemerken, wenn sie feststellen, dass sie nun wirklich zum abgehängten Teil gehören und sich ihre Lage noch verschlechtert hat. Diesen Graben, den schüttet keiner mehr zu.
Siehe Trump, siehe Johnson, siehe die Almdudler mit spätpubertärem Wunderkind-Kanzler, der um ein Haar die Republik an Russland verschachert hätte, weil er mit den falsche Dissidenten ins Bett ging. Scheint ja nicht mal peinlich zu sein.