Normalerweise kommt jetzt Lenas erste Idee. „Ich habs – wir nehmen das Boot. Wir lassen Luft ab, dann
klemmen wir es in den Schacht. Verstehst? Aufpumpen… Es verkeilt sich in der Röhre, wenn wir
vorsichtig Luft ablassen, dann rutscht es weiter runter. Komm, lass uns das Boot reinhängen!“ Lena
und ihre Ideen, das ging überdurchschnittlich schnell, wahrscheinlich wittert sie Action. Die ist
auch zu erwarten, mit einem Schlauchboot einen 1032 Meter tiefen Schacht herunterrutschen? Wir
hatten keine Wahl. „Bleibt nur die Frage: Wie sollen wir dann ohne Boot weiterkommen? Wie sollen wir
wieder hochkommen?“ Sie nickte zu mir rüber: „Da unten muss Zeug herumliegen, außerdem muss es einen
Notstromdiesel geben.“ Ich hoffte, dass ich recht hatte. Auf Sohle 8 ist ’nen Umsteigebahnhof der
Dieselkatze, da gibts auch Materiallager. „Oh Nein“ Lena sah mich mit weit aufgerissenen Augen an,
sie nahm ihren Robinson ab, wischte sich über die Stirn. „Die Schmierung, wir brauchen Schmierung.“
„Stimmt. Warte. Das Olivenöl und die Sprühflaschen für das Moskitozeug. Wir füllen das Öl ein und
besprühen die Kontaktflächen während der Fahrt.“ Lena grinste: „Extra Virgine Cold Pressed by Mafia,
das läuft wie geschmiert. Hä, Hä.“
Wir holten unser Boot. Es war im Laufe der Zeit zu einem echten Lieblingsstück geworden.
Bei jeder Expedition gabs irgendeinen neuen Hack. Es ist ein Luftboot, im Zuschnitt eines Kanadiers.
Es ist das perfekte Expeditionsboot, das Handling funktioniert fast wie bei einem Festrumpf. Der
Tiefgang von etwa 5 cm erlaubt jedes Wässerchen, bietet aber etwas weniger Spurtreue und ist bei
Seitenwind störrisch.
Deshalb war mein erster Hack, eine Halterung anzubringen. Da konnten wir dann eine Finne, bei Bedarf,
einschieben. Das gibt Spur. Es ist perfekt bei mittlerer und starker Strömung, Wildwasser bringt das
Boot so richtig auf Touren. Ein Lenzloch saugt Wasser ab, was bei unruhiger Fahrt an Bord gespült
wird. 450 KG können wir zuladen. Praktisch, an Proviant, der oft der einzige Lichtblick auf langen
Fahrten ist, muss nicht gespart werden.
Natürlich hat wohl alles seine Grenzen, die habe ich mit dem Luftding noch nicht erreicht. Es hat
diese heitere, infantile Anmutung eines Wasserspielzeugs. Das grüne Gummiboot ist eine Aufforderung
zum Wasserspiel, weil es selbst schon ein Hack ist. Die Landratte wird im Handumdrehen zum Captain
im Baggersee. Unbetretbares betreten, die kleine Eroberung der großen Welt. Eine Grenze weniger.
Die ersten Schlauchboote müssen Blasen von Robben oder Walen gewesen sein. Menschen des hohen Nordens
füllten Luft in die Blasen und setzten sich sodann darauf. Sie trieben auf den Blasen sitzend,
glücklich angelnd vor sich hin. Eine neuere Variante des Urschlauchs durfte ich in den Niederlanden
bewundern. Zwei Angler in Neopren und mit Schwimmflossen setzten sich in eine Art Autoschlauch. Die
Beine hingen im Wasser, der Popo im Ring. Zusammen mit den Schwimmflossen denkt ein Fisch da
maximal: „Die Schwäne werden immer größer.“ Genial. Die Angler hatten zudem eine Handyhalterung am
Schlauch befestigt, dort ein Bildschirm. Wie ich nach einiger Zeit der Beobachtung bemerkte,
handelte es sich um ein Sonar. Dieses zeigte den dahintreibenden Anglern die Position der Fische
unter Wasser an. Manche Dinge ändern sich prinzipiell nie, sie werden nur weiter entwickelt.
Und jetzt also der ultimative Schacht-Hack. Wir klemmten das Boot ein, stark aufgepumpt, es steckte
fest, wir setzten uns auf die Sitzbänke. Dank des Sicherheitsgurt-Hacks, der eigentlich für
Wildwasser war, konnten wir uns anschnallen. „Fertig?“ Lena sah mal wieder aus, als ob sie wirklich
Spaß hätte. „Lena, das ist nicht die Kirmes, sei vorsichtig“. „Ja, ja, Rauchen bitte einstellen ….“
Sie drückte vorsichtig auf das Ventil, Luft entwich, das Boot begann sich langsam zu bewegen,
ruckartig sprang es um wenige Millimeter, „Hey … das ist der richtige Druck, jetzt das Öl, hm,
rutscht sauber“. Lena hatte Spaß, wir rutschten und sprühten uns langsam nach unten. Wir machten es
uns gemütlich, während die Luft immer mehr nach feinstem Olivenöl duftete. Ich bekam Hunger.
Ich hörte ein leises Zischen. Es traf mich wie der Schlag – die Überdruckventile. „Lena“ „ja ich habs
gehört, wir haben zu viel Druck“. Wir wurden schneller, das Boot wird heruntergehen bis auf 0,2 Bar.
Wir sind bei 0,4, das reicht gerade, um uns stark genug gegen den Schacht zu drücken. Die Ventile
waren auf Lenas Seite, sie drückte ihre Hand gegen den Auslass, nichts, Luft findet ihren Weg. Wir
zischten nach unten, wir klammerten uns an die Sitze, das Boot geriet in Schieflage, „Leeena“ – ich
stürzte – ich spürte nichts mehr. Ich hörte das Boot an den Schachtwänden entlang schrammen.
Plötzlich ein dumpfes Geräusch, ein kurzes Krachen, das war ich, mein Körper war aufgeschlagen. Kein
Schmerz. Ich merkte, wie etwas auf mein Gesicht tropfte. Ein leichter Luftzug streifte meine Wange.
Leeeeeena. Wenn im großen Delta ein Sturm aufzieht, dann gibt es Stunden vorher viel zu tun.
Es muss alles vor dem Sturm erledigt sein. Enten, Schwäne, Schwäne sind Enten, Gänse, Kormorane,
Blässhühner, Reiher, Haubentaucher, Seeadler und Möwen, ja selbst die Insekten – sie bewegen sich
zielgerichteter, scheinen irgendwas erledigen zu wollen. Ihr als große und wilde DaDa-Operette
angelegtes Geschnatter wird stiller und zielgerichteter, reduzierter.
Dialektik der Ente: Schwäne sind Enten, Gänse sind Enten - Jan Hus war ein böhmischer Reformator,
der auf dem Scheiterhaufen landete, Hus bedeutet soviel wie Gans - als er verbrannt wurde -
rief er aus: "Heute röstet ihr eine Gans, morgen komme ich als schöner Schwan zurück!"
In höherer Frequenz sticht der Haubentaucher unter die Oberfläche, hat kleine Fische im Schnabel,
wenn er wieder auftaucht. Die Blässhühner, die Jungen gerade flügge, wirken wie ausgewechselt.
Während der Brut sieht man sie im Schilf, sehr scheu, sie scheinen immer was zu tun zu haben.
Hektischer Überlebensstress, sie dürfen nichts verpassen. Sie zucken durch die Gegend wie unter
Meth. Sie haben keine echten Schwimmhäute, sondern, im Verhältnis zum Körper, große, pockige
Krallen. Unter Zuhilfenahme der Flügel können sie damit über das Wasser laufen. Das machen sie nur
in höchster Aufregung, diese Krallen müssen es sein, die für den Stroboskop – Schwimmstil
sorgen.
Ich kam kurz nach der Brut, die Jungen waren schon in der Schwimmschule. Ein Sturm zog auf. Eine
Blässhuhnprozession. Sie treffen sich am Rand des Schilfmeeres, der Wind und die Wellen kommen vom
offenen Wasser, drücken die Vögel gegen die wogenden Halme. Es werden immer mehr, 100, 200. In
anthrazidfeuchte flackernde Körper, in der zunehmenden Dunkelheit kaum zu erkennen.
Die weißen Flächen ihrer Schnäbel scheinen das ganze Tier zu sein. Ein mattes Leuchttier, was knapp
oberhalb der schwarzen Wasserfläche mit der Dünung auf und abzuschweben scheint. Wie beim
Narrensprung, ich musste lachen. Ja wirklich, wie Masken, die Auf und Ab hüpften. Und wenn Jan
Hus als Blässhuhn zurückgekommen wäre, dann wäre die Reformation vermutlich zackiger und weniger
eitel verlaufen. Vielleicht hätte dies uns ja den Kapitalismus erspart, aber nein, es musste ein
Schwan sein. Die Eitelkeit ist des Teufels. Wer hätte gedacht, dass man zweimal auf dem
Scheiterhaufen landen kann, einmal als Gans und einmal als Schwan? Dialektik der Ente.
Irrlichternde Narren.
Hochfrequentes Pfeifen, blitzt mir zu, ganz kurz nur, weniger als eine Sekunde. Sonst völliges
Schweigen, was mag der Pfiff bedeuten? „Du da hinten. Formation halten.“ Oder: „Hey, pass auf wo du
mit deinen Riesenkrallen hin paddelst!“.
Sie sammelten sich, dann schwamm eins in Richtung des großen Flusses, immer ganz dicht entlang des
brausenden Schilfs. Hinter diesem Tier formte sich eine lange Reihe einzelner Hühner, wie an einer
Perlenschnur ins Sturmquartier. Das musste die Erklärung sein. Sie verschwanden, kein Leben mehr zu
sehen. Ich war allein, ohne Blässhühner.
Der große Fluss und das Delta. Eine Landschaft, die aus der gnadenlosen Gewalt des Wassers entstanden
ist. Tosend, wogend, krachend, mordend fraß sich die Flut in das Land. Der Fluss drückte von landein
– die See, selbst hoch aufgebracht, schob ihn wütend zurück, ja überspülte ihn. Bildete wie im
archaischen Liebesakt ein ineinander verschlungenes weißes Tosen aus Salz- und Süßwasser. Der Sturm
brüllte dazu die Apokalypse.
100.000 Tausende Seelen nahm die Nacht. Wo gestern noch ein Acker und ein Dorf, da war eine neue
Geräuschkulisse, ein neuer Alltag, nun war alles wie am ersten Tag der Schöpfung. Und nur mit der
Erinnerung an den Vortag erschien es wie ein endloses Grab. Die alte Küste war fortgespült, als
hätte es sie nie gegeben. Tief und zerfasert, endlos weit, gierte die See ins Land, bildete mit dem
großen Fluss das neue Delta. Das Grab.
Inzwischen gab es Gezeiten. Die Ströme von Ebbe und Flut nagten weiter am Land, nahmen das letzte
Ackerland mit, formten Priele und Sandbänke, schaufelten Kies auf. Zerriebenes Land zwischen Salz
und Süß, zwischen Hoch- und Niedrigwasser, nicht Land, nicht See, unüberbrückbar, das verbliebene
Land für immer geteilt. Ein Grab ohne Ruhe. Undurchdringliches Dickicht, Labyrinth aus ständig
wandernden Kanälen und Seen. Kadaver. Schwimmende Inseln, tödliche Untiefen, an jedem Tag
woanders.
Glieder, Körper, Trümmer, wann werden sie zur See?
Die Strömung schlägt die Glocke des versunkenen Turmes,
Ebbe, Schlag, Flut, Schlag.
Die Gebete spricht jetzt der Wind.
Die Vegetation änderte sich, nur die alten Weiden blieben, wuchsen immer krümmer, blieben am Boden,
auf den sie der Wind drückte. Klammerten sich an die Erde, die sie so festhielten. Alle anderen
Bäume verschwanden. Schilf und Wasserpflanzen eroberten die neuen Uferzonen. Höfe und Häuser, die
gestern noch mit der Kutsche zu erreichen waren, brauchten heute einen Anleger. Das Wetter wurde
rauer, der Südwester konnte ungehindert über die Wasserflächen und Schilfmeere dröhnen. Auf den
kleinen Poldern boten nur die ewigen Weiden etwas Schutz vor der neuen Umgebung.
Schließlich mussten die wenigen im Delta verbliebenen Menschen alles neu erlernen. Sie wurden von
Viehzüchtern und Ackerbauern zu hart arbeitenden Fischern und Bootsbauern. Einige folgten dem großen
Fluss in die abwärts gelegenen Seehäfen. Sie wurden Matrosen, Kapitäne, Offiziere, kamen zurück und
brachten leidlich Wohlstand mit. Steinhäuser, Städtchen entstanden auf den verbliebenen Poldern und
winzigen Landzungen.
Als ich zum ersten Mal ins Delta kam, hatte sich nicht viel verändert, in den letzten 300 Jahren. Das
Gebiet war im Windschatten jeder Modernisierung geblieben, vergessenes Wasserland – Wasteland.
Ich hatte mich verirrt. Der Sturm wurde stärker, die Blässhühner waren im Schilf verschwunden. Vor
mir starteten zwei Schwäne. Sie starten wirklich. Flügel raus, dann schnell übers Wasser planschen,
Höhe gewinnen und Fahrwerk wieder einfahren. Nach dem Einfahren des Fahrwerks machen die dann immer
so ein komisches „öhhh öhhh“ oder so, sehr rhythmisch mit jedem Flügelschlag. Wahrscheinlich sind
das solche Wuchtbrummer in der Luft, wie so eine Antonow, dass sie die kleinen Spatzen warnen. Na ja
– elegant sind sie im Wasser. Aber fliegt.
„Du musst hier geboren sein, um einen Weg dadurch zu finden.“ Ich erschrak, hinter mir war ein Boot.
Eine Frau, Kopftuch, Blaumann – sie streckte mir ihre Hand entgegen: „Komm, schnell an Bord, dein
Kanu wird die Nacht kaum überstehen. Lass es treiben, wir finden es nach dem Sturm.“
Irgendwie vertraute ich sofort, wieso sollte sie mir helfen, bestimmt nicht, um meine alte Seahawk zu
stehlen. Also hoffte ich auf ein warmes Bett und eine Mahlzeit. Die Hand wippte auf und ab, die
Fingernägel waren kurz, das Fleisch der Finger quoll über den Nagelrand. Die Haut rissig. Ölig
schwarze Rissigkeit. Sie hatte es aufgegeben, den Dreck aus den Furchen zu kratzen.
Ich griff zu, die Hand war eiskalt, sie war stark, sie hob mich beinahe aus dem Kanu. Ihr Boot war so
ein altes verrostetes kleines Landungsboot aus Armeebeständen, mit zwei starken Außenbordern. Kurz
vor dem Heck der Sitz mit Gashebeln und Steuer, Reservekanister mit Spanngurten an die Ösen gezogen.
Camouflage Anstrich und Rost bildeten eine neue Tarnung, besser als die originäre. Ich kauerte
hinter der Bordwand, mir war kalt. Ich blickte zu ihr hoch, sie sah mich an und schob beide Gashebel
nach vorn, die Außenborder röhrten los.
Träge und mit viel Druck zugleich fuhr sie eine schnelle Wende, Krängung am Kenterwinkel. Aus dem
Bogen kommend, gab sie Vollgas. Der Bug kam aus dem Wasser, wir begannen zu gleiten. Gischt schoss
über die Spitze, ich duckte mich weg. Die Außenborder brüllten mit dem Wind um die Wette, es war
jetzt vollkommen dunkel. Die Wellen wurden stärker, wir sprangen und schlugen bretthart auf die
Oberfläche, ein markerschütternder Schlag traf mich jedes Mal. Ich klammerte mich fest, die eine
Hand an der Bordwand, die andere an einer Leine, die längs durch die Blechbüchse lief.
Wir kamen auf den Fluss, überholten einen voll beladenen Schubverband, der in Richtung Küste fuhr.
Wir flogen durch seine Bugwellen meterhoch in die Luft. Sie gab Vollgas, holte zu einer Linkskurve
aus, zog quer über die Fahrrinne ohne nach rechts und links zu schauen, mit voller Geschwindigkeit
rasten wir aus dem Flussbett in ein Gat und in einen Kanal. Möwen stoben kreischend auf.
„Hey wer bist du? Ich bin Daniel.“ „Anna“, schrie sie gegen den Sturm zurück. Wir fuhren in einen
engen Priel, hohe Weiden schoben ihre Kronen vor den Mond. Flackernd kaltes Licht durch
sturmberauschte Blätter und Zweige. Rechts und links starker Algenbewuchs, wir mussten uns genau in
der Mitte halten, um die Propeller nicht zu heißlaufenden Häckslern zu machen. Anna drosselt die
Geschwindigkeit nicht, sie hatte die Fahrrinne im Gefühl. Unsere Bugwelle ließ Algen und Schilf
tanzen, wütendes Geschnatter, hinter uns waberte der Schaum der Schrauben in die Dunkelheit. Ich
duckte mich unter die Bordwand.
Anna wurde langsamer.“Wir sind da.“ Vor uns öffnete sich ein altes Hafenbecken von vielleicht 100 mal
100 Metern. Wir fuhren auf den Anleger unterhalb einer Werkhalle zu. Rost, Rost, Rost – verrostete
Tore, verrostetes Wellblechdach. Vor der Halle lag ein ausgeweideter Binnenfrachter. Braun-Rot
überzog ihn nur noch seine edel korrodierte Außenhülle. Bloß gelegt, die Gestänge der erhöhten
Brücke. Aus dem Bug durchs rechte Ankerloch hing die dicke Ankerkette. Wie ein Piercing im ansonsten
schmucklosen Körper.
Der Kahn schien aus dem Wasser gewachsen zu sein. Ganz ruhig und schwer lag er da. Das fahle
Mondlicht gab ihm scharfe Konturen und einen seltsamen Schatten, der auf das Wasser fiel. Wir fuhren
seitlich den alten Frachter an, um in die Nähe des Stegs zu kommen. Ich beobachtete Anna. Wie eine
Narbe scharf, eine Lichtkante. Von rechts nach links tauchte Annas Gesicht in den Schatten ein, wir
glitten langsamer, ohne Motor, ich bemerkte ihr dichtes, schwarzes Haar, was unter dem Kopftuch
hervor wollte. Zeitlupe, der Moment, als eine Gesichtshälfte fahlgrau im Mondlicht war, die andere
da schon kaltschwarz im Schatten. Zeitlupe, es blitzt ein Blick aus ihrem hellen Auge,
bevor es in die Dunkelheit ging.
Die wirken im ersten Moment gar nicht wie Schatten, Mondschatten. Ich konnte meinen Blick nicht von
dem Schiff abwenden. Singulär, erhaben und stolz. Völlig ungerührt vom erbärmlichen Äußeren wirkte
der Kahn nicht wie ein Wrack, eher wie eine riesige Statue, ein ehrwürdiges Denkmal.
In den Stahl des Rumpfes erhaben eingeprägt „Butterfly“.
Wir krachten an den Anleger, ich verlor den Halt und rutschte nach vorn. Anna lachte. „Komm schon –
ein bisschen Spaß muss sein.“ Ich lächelte gequält und stand langsam auf. Ich griff nach der Leiter,
die oben vom Steg herabführte, zwei, drei Sprossen und ich stand neben Anna auf dem alten, natürlich
rostendem, Steg. Anna bemerkte, wie ich skeptisch den ganzen Schrott musterte. „Ach – das ist nur
Rost. Hier ist die Luft so feucht, das lohnt nicht, sich drum zu kümmern. Das Salz in der Luft –
weißt du, alles rostet so schnell, da hast du morgens feinen Stahl und am Abend sieht es schon aus
wie 100 Jahre alt. Am besten es bildet sich eine Kruste aus Salz und Rost, dann bleibt es innen
stabil. Aber nicht so lange wie an Land. Alles ist kompliziert, weißt du.“ „Hm“.
Anna griff in die Brusttasche ihres Blaumanns, nestelte ein Päckchen Tabak raus. Sie setzte sich und
ließ die Beine über den Steg hängen. Ein Zigarettenpapier klebte mit einer Ecke in ihrem Mundwinkel.
Der Wind knickte es, blies es gegen ihre Wange. Sie nahm etwas Tabak, das Blättchen aus dem
Mundwinkel, platzierte den Tabak. Fast wie eine Bewegung drehte sie, leckte das Blättchen ab, klebte
die Kippe zu, warf sie in den Mund und hatte schon ein Feuerzeug gezündet. Sie sog gierig laut an
der Zigarette, atmete den ersten Zug tief ein, nahm die Kippe aus dem Mund und drehte sie so, dass
sie von oben auf die Zigarette blickte, sie blies den Rauch gegen die Glut.
„Weißt du, das hier ist kein normaler Ort. Er hat seine Geschichte. Früher war das hier ein
Rindvieh-Polder. Der Bauer hatte Zwillinge, zwei Brüder. Die beiden waren sich spinnefeind,
angeblich habe die Mutter dies schon während der Schwangerschaft bemerkt. Bei jeder Gelegenheit
versuchte der eine den anderen zu übervorteilen, um in der Gunst des Vaters aufzusteigen, Alleinerbe
zu werden. Das machte den Bauern sehr traurig. Sie lebten dort hinten links auf dem Polder
„Boerenverdriet“. Eines Tages, es ging um eine Kuh, eskalierte der Streit zwischen den beiden
Söhnen. Der eine nahm eine Heugabel und rammte sie dem anderen mit voller Wucht in den Rücken. Die
Heugabel noch im Mann floh der Verletzte auf den namenlosen Polder neben dem der Familie.
Am nächsten Tag fand man ihn im Schilf – Tot. Seitdem heißt der Polder ‚De Dood‘. Und auf
dem sitzen wir gerade. Nach dem Mord an einem seiner Söhne verließ der alte Bauer
das Gebiet des großen Deltas. Er ließ auch seine Frau zurück und lebte
als bettelarmer Einsiedler irgendwo auf dem Festland. Der verbliebene Sohn erbte schnell alles,
denn die Mutter starb, vor lauter Kummer, rasch nach den Ereignissen. Der Sohn verkaufte beide
Polder zu einem Spottpreis.Und bitte schön, ich bin die stolze Besitzerin von „Boerenverdriet“,
doch damit nicht genug, „de Dood“ ist auch mein.“